FEUERWERK

1

    »Du hast es versprochen.«

    Von draussen drängte sich dumpfer Lärm in den Raum. Ein lauter Knall presste sich durch die Ritzen des kleinen Fensters und schickte ein leises Vibrieren durch Wände und Boden. Kaum spürbar und doch da. Für einen kurzen Augenblick erhellte sich der Raum in schwachem Licht. Nur um sogleich wieder in der Dunkelheit zu verschwinden.

    Aadil Abbas hatte nur einen kurzen Blick auf das Gesicht seiner kleinen Tochter erhaschen können. Doch es hatte gereicht, um die Enttäuschung in ihren schwarzen Augen zu erkennen.

    Der Geruch des Abendessens hing noch immer in der Luft. Ein intensiver Duft von wilden Gewürzen, warmem Honig und gedörrten Früchten. Die Luft war voll davon. Es war ein Festmahl gewesen. Für einen ganz besonderen Abend. Zumindest hätte es einer werden sollen. Ein wundervolles Essen. Und dann das grosse Feuerwerk.

    Doch es war alles anders gekommen. Es war 16:53 Uhr gewesen, als Aadils Telefon geklingelt hatte. Der lächerliche Klingelton hatte dem Anruf eine unangebrachte Komik gegeben. Aadil war noch im Büro gewesen. Zu früh, hatte er sich gedacht. Obschon er es hätte ahnen können.

    »Es gibt eine Änderung«, hatte die Stimme am anderen Ende gesagt.

    Eine Änderung. Schon wieder. Aadil hatte diese Änderungen so satt. Doch so war es nunmal. Also hatte er beschlossen früher nach Hause zu gehen. Das Feuerwerk würde platzen. Das gemeinsame Essen mit seiner Tochter würde er nicht auch noch hergeben.

    Trotz seiner Anstrengungen war sie ausser sich gewesen vor Wut.

    »Nein!« hatte sie geschrieen. »Das ist nicht fair!«

    Und sie hatte Recht gehabt. Es war nicht fair. Dann war in der ganzen Wohnung das Licht ausgegangen.

    »Auch das noch«, hatte Mayla gefaucht, als wäre die ganze Welt gegen sie. »Wir brauchen eine Kerze!«

    Aadil hatte den Hauch einer Chance gewittert.

    »Warte«, hatte er sie zurückgehalten. »Was hältst du davon, wenn wir die Kerze weglassen? Wir setzen uns im Dunkeln aufs Sofa und lauschen dem Grollen des Feuerwerks. Wenn es ganz Dunkel ist, kommt vielleicht sogar das Licht zu uns hinein.«

    Mayla war keineswegs begeistert gewesen. Dennoch war sie wortlos zum Sofa gestampft und hatte sich hingehockt. Schwer darum bemüht einen möglichst grossen Abstand zu ihrem Vater zu generieren. Eine Weile lang waren sie einfach schweigend dagesessen. Schliesslich hatte Aadil seine kleine Mayla dazu gebracht, ihren Kopf auf seinen Schoss zu legen. Ihre Miene war wie versteinert. Die dunklen Augen blickten an ihm vorbei zur Decke hoch.

    Nach einem weiteren langen Schweigen hatte sie die vernichtenden Worte ausgesprochen.Ganz leise. Ohne Wut. Ohne Kraft. Wie Schnitte von Papier. So klein und doch so unglaublich schmerzhaft.

    »Du hast es versprochen.«

    Ja, das hatte er. Und er wusste, wie viel es ihr bedeutete.

    Seit ihrer Geburt waren sie immer wieder umgezogen. Kein Ort hatte je die Chance gehabt ein wirkliches Zuhause zu werden. Und jetzt war es schon wieder soweit. Sie würden diesen Ort verlassen. Einmal mehr.

    Mayla konnte sich genau erinnern, wie unfassbar traurig sie bei ihrem letzten Umzug gewesen war. Der einzige Trost war das Versprechen ihres Vaters gewesen.

    »Wir werden in eine grosse Stadt ziehen. Und weisst du was es in grossen Städten gibt?« hatte er sie mit einem Lächeln im Gesicht gefragt.

    »Nein«, hatte sie zögerlich geantwortet.

    »Feuerwerk!«

    Doch die Realität hatte anders ausgesehen. »Ein Feuerwerk? Keine Ahnung. Es gibt nicht oft Feuerwerke hier. Erst recht nicht in diesen Zeiten«, hatte man ihnen gesagt.

    Aadil hatte die Enttäuschung in den Augen seiner Tochter kaum ertragen. Also hatte er sich zu ihr hinunter gebeugt und gesagt: »Wir werden solange nicht umziehen, bis das nächste Feuerwerk kommt, ja?«

    »Versprochen?« hatte ihn Mayla hoffnungsvoll gefragt.

    Und Aadil hatte etwas getan, was er nicht hätte tun sollen. Er hatte ein Versprechen gegeben, von dem er nicht wusste, ob er es einhalten konnte. Doch nach allem, was sie in diesen Wochen durchgemacht hatten, hatte er es einfach nicht übers Herz gebracht, ihr dieses Versprechen zu verwehren.

    Dass er es ausgerechnet heute bereuen würde, heute am grossen Festtag, zerbrach ihm beinahe das Herz. Er blickte auf seine Kleine hinab. Seine Mayla. Sein ein und alles.

    »Ich weiss«, antwortete er leise. »Aber es gibt einen Grund, weshalb wir uns das Feuerwerk nicht ansehen können.«

    Mayla sagte kein Wort. Kein Grund der Welt konnte das alles wieder gut machen.

    »Ich habe heute einen Anruf erhalten. Es hat eine Änderung gegeben. Wir müssen schon morgen früh los.«

© Samuel Vetsch | 2020