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    Aadil konnte es nicht wirklich erkennen. Ein grösserer Geländewagen. Oder ein Pick-up. Als das Fahrzeug immer näher kam, klärte sich das Bild nach und nach.

    Ein alter Lastwagen kam vor ihnen zum Stehen. Und Aadil stockte das Herz. Nicht bei dem, was er sah. Sondern bei dem, was er hörte. Aus dem Laderaum des Lkws drang laut und deutlich das Mähen von Schafen. Was Aadil Sorge machte, war noch nicht einmal primär, dass sie vermutlich gleich in einen Schaftransporter wechseln würden. Sondern vielmehr, die Anzahl der Schafe, die er darin vermutete. Hatten sie überhaupt noch Platz?

    »Kommt mit.«

    Aadil nahm seine kleine Mayla an der Hand. Sie hatten vereinbart, dass Mayla so wenig wie möglich sprechen würde. Sie hielt sich strikt daran und insistierte auch dann nicht, als der junge Fahrer die Hintertür des Lasters aufstiess. Der Blick, der sich ihnen anbot, schnürte Aadil die Kehle zu.

    Mindestens vierzig Schafe vermutete er zusammengepfercht im stickigen Laderaum. Doch noch mehr schockierten ihn die übrigen Insassen. Zwischen den Schafen zählte er insgesamt sechzehn Menschen. Fast ausschliesslich junge Männer. Die einen standen durchgeschwitzt an den Wänden und hielten sich in den kleinen Luftöffnungen fest. Die meisten jedoch sassen wild verteilt zwischen den Schafen. Ihre Köpfe mit Stroh und Dreck verschmiert. Die Blicke gefühlskalt. Wie lange waren sie hier schon unterwegs?

    Am schlimmsten aber war der Gestank. Noch standen Aadil und seine Tochter vor dem offenen Tor. Doch schon hier war es fast unmöglich so etwas wie Luft einzuatmen.

    »Na los!« fauchte der Fahrer aus dem Jeep sie an und zeigte in den Laderaum. »Wir haben nicht ewig Zeit.«

    Aadil blickte auf seine kleine Mayla hinab. Ihr Blick war fassungslos. Flehend blickte sie zu ihm nach oben. Als wollte sie sagen: »Bitte nicht. Bitte lass uns einfach umdrehen und zu Opa Ensar zurückgehen.«

    Wie gerne hätte er ihr gesagt, dass das alles nur ein Spiel sei. Dass sie jederzeit aussteigen konnten und dann wäre all das umgehend vorbei. Nur war es nicht so.

    »Ich bin bei dir. Es wird alles gut«, war das Einzige, was er von sich brachte.

    Und dann packte er sie und hob das kleine Mädchen auf die Ladefläche. Mit einem halbwegs schwungvollen Sprung folgte er ihr nach oben. Der Gestank schnürte ihm die Kehle zu. Verzweifelt kämpfte er gegen den Drang an, sich zu übergeben.

    »Lass uns einen Platz für dich und Mr. Jingles suchen, okay?«

    Es war der aussichtslose Versuch, so etwas wie Normalität in diese unerträgliche Situation zu bringen. Mayla nickte stumm und sie drängten sich durch die Tiere bis nach ganz hinten. Die Männer im Innern blickten sie mit kalter Miene an. Es war längst allen klar, dass Gespräche auf dieser Reise weder angebracht noch erwünscht waren.

    Noch bevor sie am anderen Ende angekommen waren, setzte sich der Lastwagen mit einem heftigen Ruck in Bewegung. Mayla verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden. Ein aufgescheuchtes Schaf trat wild mit seiner Hinterklaue auf und verfehlte nur um ein Haar Maylas kleine Hand. Mit einer kräftigen Bewegung griff Aadil nach dem Arm seiner Tochter und richtete sie wieder auf. Dann hob er sie hoch und trug sie bis zur hinteren Wand. Wo sie sich erschöpft auf den Boden sinken liessen. Dicht aneinander gepresst. Die Luft viel zu schwer. Die Hitze unerträglich. Dicke Schweissperlen bildeten sich auf Maylas Stirn und kullerten langsam in Richtung Stroh.

    »Weisst du was?« fragte Aadil mit leiser Stimme.

    Mayla schüttelte wortlos den Kopf.

    »Wenn wir ankommen, sehen wir vielleicht das Meer.« Er versuchte ein Lächeln. »Das wird was! Die kleine Mayla sieht zum ersten Mal das grosse Meer. Ist das nicht was?«

    Sie nickte versteinert. Aadil wusste, dass sie es nur tat, um ihren Papa nicht zu enttäuschen.

    »Schliess ein wenig die Augen, Liebes.« Trotz der Hitze zog er seine Kleine noch näher an sich heran. Mit geschlossenen Augen drückte er ihr einen sanften Kuss auf ihre dichten Haare. Die Haare ihrer Mutter. Dann fügte er fast flüsternd hinzu: »Und denk an unser Haus am Meer, ja? Unser Zuhause. Das uns nichts und niemand jemals wegnehmen kann.«

    Aadil war erleichtert, als Mayla nach nur wenigen Minuten einschlief. Je weniger sie von all dem hier mitbekam, desto besser.    

© Samuel Vetsch | 2020