»Ich bin ja der Meinung, dass nichts auf dieser Welt gratis zu haben ist«, fuhr der Grosse fort. »Aber, na ja. Du scheinst auf jeden Fall keine Ahnung davon zu haben, was auf diesen Booten mit kleinen Mädchen wie der da so alles passiert.« Er machte eine künstlerische Pause und baute mit finsterem Blick und einem hässlichen Grinsen im Gesicht Spannung auf. Schliesslich sprach er mit ungewöhnlich leiser Stimme weiter; fast so, als würde er Aadil gleich ein düsteres Geheimnis verraten: »Das ist ein Haufen einsamer Männer. Viele von ihnen seit Tagen, wenn nicht Wochen, unterwegs. Ohne auch nur ein einziges Mal«, mit einer knappen Kopfbewegung deutete er an Aadil vorbei zu Mayla hinunter, »Du weisst schon.«
Nun bildete er mit erregtem Blick ein Victory-Zeichen vor seinem Mund und leckte mit schnellen Zungenbewegungen die Innenseiten von Zeige- und Mittelfinger ab.
Aadil wäre am liebsten auf ihn losgegangen. Wie konnte er nur? Vor den Augen seiner kleinen Tochter. Hatte sie nicht schon genug durchgemacht? Abscheu durchfuhr seinen ganzen Körper. Doch es würde nichts bringen.
Er versuchte sich zu beruhigen; atmete tief durch. Nicht ohne zu bemerken, dass der Grosse seinen unterdrückten Drang ihm eine reinzuhauen mit Genugtuung zur Kenntnis nahm.
Dann hatte er sich wieder gefangen. Aus irgendeinem absurden Grund schien die stumme Frau hinter seinem kolossalen Gegenüber ihnen helfen zu wollen.
»Was ist das für ein Gratistipp?« hakte er nach. So emotionslos es ihm möglich war.
»Nun«, der Hüne genoss es sichtlich, die Gesprächsführung wieder zu übernehmen. »Das hübsche Ding ist zu ihrem Glück noch klein genug, um nicht wirklich erkannt zu werden. Wenn wir also ein wenig nachhelfen, könnte sie doch glatt als Junge durchgehen.«
Aadil blickte ihn fragend an. Was in aller Welt meinte der Typ bloss mit »nachhelfen«. Als ob er seine Gedanken lesen konnte, hob der Riese seine Hand. Erneut bildete er das Victory-Zeichen. Doch dieses Mal nutzte er es, um gelassen die Bewegung einer Schere zu imitieren.
Dann lachte er: »Oder sollte ich besser sagen: Fffrrrrr.« Aufgeregt führte er seine Scharade fort, in dem er einen imaginären Rasierer in seinen Händen hielt. Sein Blick mit hochgezogener Augenbraue auf die Schafe hinter ihnen gerichtet. Das Lachen war so laut, dass ihm die Frau an seiner Seite einen klärenden Blick zuwarf. Er verstummte augenblicklich.
Nur wenige Minuten später sass Mayla auf der Kante der Ladefläche. Dicke Tränen kullerten über ihre Wangen, als Aadil mit der Schermaschine über ihren kleinen Kopf glitt. Er hatte darauf bestanden, dass er es tun würde. Sie hatte ihm versprochen zu tun, was auch immer er von ihr verlangte. Und so war sie tapfer und stumm dagesessen und hatte es über sich ergehen lassen. Ihre dicken Wellen hatten den Kampf verloren. »Wir gehen hier nicht weg!« hatten sie ihm noch gestern Abend sagen wollen. Und nun fielen sie in vollen Knäueln zu Boden.
Als er fertig war, zog er ihr die jungenhaftesten Kleider an, die er eingepackt hatte und kniete zu ihr hinunter. Lächelnd blickte er sein tapferes Mädchen an und wischte ihr mit seinem Daumen die Reste der stumm vergossenen Tränen aus den Augen.
»Sieht doch gut aus!« Der Hüne klatschte fröhlich in die Hände und lachte sich beinahe kaputt. »Jetzt braucht der Junge nur noch einen Namen. Yassin? Yussuf? Tarek?« Er krümmte sich förmlich, so komisch kam er sich vor.
»Junis.« Es war das erste Mal, dass Mayla ihre Stimme erhob. Und Aadil merkte sofort, dass sie es auch bei diesem einen Wort belassen würde.
Junis. Es wäre ihr Name geworden, wenn sie ein Junge geworden wäre. Junis. Der Friedliebende.
Der Hüne war so überrascht gewesen, dass das kleine Mädchen Töne von sich geben konnte, dass sein Gelächter sofort verstummte. Bedrohlich beugte er sich zu Mayla hinunter.
»Junis, also?« Er quittierte den Satz mit einem imaginären Spucken. »So soll es sein.«
Wieder bäumte er sich in seiner vollen Grösse über Mayla auf. Aadil nahm sie am Arm.
»Komm, lass uns gehen.«
Sie hatten sich kaum abgewandt, als die kräftige Stimme sie erneut anhielt.
»Junis!« Mayla drehte sich noch vor Aadil um. Der Grosse kam mit schnellem Schritt auf sie zu und kniete erneut zu ihr hinunter. Bedrohlich blickte er sie an. »Jetzt wo du so ein schlauer Junge bist, brauchst du das hier bestimmt auch nicht mehr.«
Er deutete mit seinem Blick auf Maylas Hals. Eine rosegoldene Kette mit einer weissen Muschel. Sofort schloss Mayla schützend ihre Hand um den kleinen Anhänger.
»Nicht«, sagte Aadil bestimmt. »Nicht die Kette!«
Der Dicke blitzte mit scharfem Blick zu Aadil. Nur um seine Aufmerksamkeit gleich wieder Maylas Schmuckstück zu widmen. »Du willst doch nicht, dass man dich aufgrund einer lächerlichen Kette entlarvt, oder?«
»Die Kette kommt mit, oder …«
»Oder was?« unterbrach er Aadil in voller Lautstärke. »Wir waren uns doch einig, dass nichts auf dieser Welt gratis ist.« Er blickte Mayla tief in die Augen. Standhaft erwiderte sie seinen Blick und hielt die Kette fest umklammert. »Du solltest deinem lieben Onkel dankbar sein. Dafür, dass er dich vor den Wilden da unten und ihren perversen Gelüsten bewahrt hat. Und jetzt gib mir die Kette!«
Mit einem Ruck umklammerten seine grossen Pranken Maylas zarte Hand und entrissen ihr die Kette mit voller Wucht. Mayla kreischte.
»Wirst du wohl deine freche Klappe halten!« schrie der Bärtige sie an und donnerte seine Rückhand mit voller Wucht gegen Maylas Wange. Das zarte Mädchen stürzte zu Boden. Aadil warf sich schützend über sie. Ein grausamer Schmerz durchfloss ihn, als der riesige Stiefel mit aller Kraft auf seiner Hand landete.
»Wenn du deiner Kleinen keinen Anstand beibringen kannst, dann wirst du dich halt bedanken.«
»Niemals!« presste Aadil unter Schmerzen hervor.
»Nun gut.« Mit voller Wucht drückte die harte Sohle des Stiefels auf Aadils Hand.
»Danke!« schrie er auf.
»Was? Ich kann dich nicht verstehen.«
»Danke«, wiederholte Aadil mit zusammengebissenen Zähnen.
»Ah, das ist doch kein Problem. Ich bin eben ein hilfsbereiter Mensch.« Sein Schauspiel war katastrophal. Doch er gefiel sich ganz offensichtlich in seiner Rolle.
»Und womit möchtest du dich denn bedanken? Vielleicht mit dieser Kette? Nun gut, wenn du darauf bestehst. Ich glaube zwar nicht, dass sie mir stehen wird. Aber wenn sie ein Geschenk ist, dann will ich es mal nicht ablehnen.«
Noch einmal drückte er zu. Aadil schrie auf. Die Stimme des Hünen wurde wieder ruhig. Aber nicht weniger herablassend.
»Dann hätten wir das ja geklärt«, erklärte er und löste seinen Fuss von Aadils blutender Hand. »Und nun macht, dass ihr wegkommt. Sonst verpasst ihr noch euer Schiff. Gute Reise.«
Unter Schmerzen kämpfte Aadil sich zurück auf die Beine. Dann hob er seine kleine Mayla auf seine Hüfte. Kräftelos legte sie ihre dünnen Arme um seine Schultern und klammerte sich an ihn. Seine Hand drohte beinahe abzufallen. Mit humpelndem Schritt machte er sich auf den Weg die Böschung hinunter.
Wäre es nicht besser gewesen, einfach Zuhause zu bleiben – und zu hoffen?
© Samuel Vetsch | 2020