AN DECK

13

    Am Ufer standen mehrere Männer vor dem zerbrechlichen Kahn. Ein mittelgrosses Fischerboot, das vermutlich einmal dunkelgrün gewesen war. Mittlerweile war es jedoch vom Rost übermannt worden. Das Boot schien jetzt schon übervoll zu sein und lag beunruhigend tief im Wasser. Wie die Hühner auf der Stange drängten sich mindestens hundert Leute auf dem Deck aneinander. Doch die Männer winkten immer mehr Leute auf den Kutter.

    »Sorg dafür, dass ihr einen Platz an Deck bekommt.« Ensars Worte hallten durch Aadils Kopf. Seine Gedanken rasten. Auf diesem Deck gab es keinen Platz mehr. Er vermutete sogar, dass es eigentlich überhaupt keinen Platz mehr gab.

    Ein junger Mann mit kurzem Bart winkte sie zu sich heran. Als sie näher kamen, realisierte Aadil, dass es wirklich ein Junge war. Kaum mehr als 17 Jahre. Er blickte vertieft auf ein Klemmbrett in seiner Hand.

    »Wie viele?« fragte er knapp.

    »Nur wir zwei«, antwortete Aadil nüchtern.

    Wie viele? War das die einzige Frage, die hier von Bedeutung war? Keine Namen. Keine Herkunft. Keine Hintergründe. Nur die Anzahl. Wie viele Leute könnten sie noch auf dieses steinalte Gefährt stopfen, bevor es definitiv untergehen würde? Wie viel Umsatz würde ihnen der heutige Tag einbringen? Aadil war sprachlos, als ihm durch den Kopf schoss, wie viel jeder einzelne auf dem Kutter für diesen Weg bezahlt hatte.

    Er hatte schon einige Geschichten über die Schlepper gehört. Eine Hand voll davon war einigermassen beruhigend. Die meisten jedoch nicht.

    Und alle wussten, wie die Chancen standen, bei anständigen Schleusern zu landen. Wenn es so etwas wie Anstand in dieser Branche überhaupt geben sollte. Für die meisten von ihnen traf es der Begriff Schmuggler schon eher. Und Schmugglern war es egal, was sie schmuggelten. Drogen, Handelsgüter oder Menschen. Alles wurde wie dieselbe Ware behandelt, eingepackt und verladen. Am Ende des Tages zählte nur der Profit.

    Aadil hatte schon bei der ersten Fahrt im Jeep das ungute Gefühl, dass seine kleine Mayla und er bei der unschönsten Sorte von Schmugglern gelandet waren. Hätte es ein Zurück gegeben, er wäre gerannt, so schnell er nur konnte. Doch dieses Zurück gab es nicht. Dieses Zurück führte zweifelsohne in den Tod. Sie waren schon so weit gekommen. Sie mussten nur noch diese eine Fahrt überstehen und dann hätten sie die Chance auf eine Zukunft. Eine echte Zukunft, wie Ensar gesagt hatte.

    »Die Rucksäcke bleiben hier«, befahl der Junge und zeigte auf einen grossen Haufen Gepäckstücke etwa zwei Meter von sich entfernt. Alles kleine Rucksäcke und Taschen. All diese Menschen hatten ihr ganzes Leben in eine einzige kleine Tasche gepackt. Und hier mussten sie sie zurück lassen. Nicht einmal ihr letztes Hab und Gut wurde ihnen gewährt. Aadil wusste, dass es keinen Sinn machen würde, sich zu widersetzen.

    »Gib mir deinen Rucksack, ja?« wies er Mayla an. Der Blick in ihren Augen zeigte Aadil, wie wenig seine Tochter noch verstand. 

    Vorsichtig streifte er ihr den kleinen Rucksack vom Rücken und legte ihn zusammen mit seinem eigenen behutsam auf den Haufen. Fast so, als wäre es ein Blumenstrauss, den er auf ein Grab legen würde. Gedacht, um einem Leben zu gedenken, das nicht mehr länger war.

    Dann nahm er ihr ihren geliebten Mr. Jingles ab. Ihre schwarzen Augen weiteten sich verzweifelt. Einen Moment lang hielt er inne. Dann drückte er Mr. Jingles zurück in Maylas Arme. 

    »Der hier kommt mit«, sagte er mit verständnisvoller Stimme. 

    Was hätte er in diesem Moment für ein Lächeln gegeben. Nur ein einziges, kurzes, noch so kleines Lächeln. Doch was er bekam war nur ein starrer Blick. Eine dunkle Leere, dort wo einmal das zauberhafteste Lächeln gewohnt hatte, das er in seinem ganzen Leben je gesehen hatte.

© Samuel Vetsch | 2020