14

    »Hier«, der junge Mann zeigte auf einen weiteren Haufen neben ihm. Ein Haufen voll mit alten Schwimmwesten. Dazwischen aufblasbare Schwimmreifen und Swimmingpool-Tierchen. Aadil wollte sich nicht ausmalen, was es bedeuten würde, im Ernstfall zuerst noch ein Einhorn mit Glitzerhaaren im eisigen Wasser aufzublasen. So oder so sah nichts von alledem auch nur im Ansatz so aus, als könnte es wirklich ein Leben retten. Hoffnungslos wühlte er sich durch die Schwimmwesten.

    »Die sind alle zu gross«, stellte er fest. »Haben sie keine für Kinder?«

    »Entweder ihr wollt eine oder eben nicht«, war die einfache Antwort.

    Aadil griff zu und packte sich zwei Westen, von denen er eine davon wenigstens für ein wenig kleiner befand. Er stülpte die Weste über seine Tochter. Sie schien beinahe darin zu verschwinden. Dann versuchte er, so gut es ging, in seine eigene Weste zu steigen, während er Mayla auf seiner Hüfte hin und her schob.

    Der Junge deutete sie mit einer einfachen Kopfbewegung an, auf das Schiff zu steigen. Aadil hob Mayla auf das Deck und stieg ihr nach.

    Als sie oben waren, blickte der Junge von seinem Klemmbrett auf. »Nach unten«, sagte er knapp und wies mit dem Kuli in seiner linken Hand auf eine einfache Luke im Boden des Decks. Ein schwarzes Loch, aus dem sie mindestens zwanzig Augenpaare anstarrten. Das würde seine kleine Mayla nicht schaffen. Für noch so eine Fahrt würde ihre Kraft nicht reichen.

    »Wir können nicht nach unten«, erwiderte Aadil unsicher.

    »Und warum nicht?« wollte der Junge trocken wissen.

    »Meine …«, das Wort blieb ihm im Hals stecken. Er räusperte sich, als hätte er sich verschluckt und fuhr fort: »Mein Sohn. Er hat jetzt schon keine Kraft mehr. Er wird das da unten nicht schaffen.«

    »Ich habe meine Anweisungen«, war die knappe Antwort.

    »Aber sehen sie ihn sich doch an, er …«

    »Nach unten oder raus!« unterbrach ihn der Junge grob. Dann hob er langsam sein weites Hemd ein wenig nach oben. Aadil konnte die Pistole in seinem Hosenbund sofort erkennen. Einmal mehr wurde ihm klar, nicht er bestimmte hier das Vorgehen. Mit schwachem Schritt steuerte er auf die Luke zu. Plötzlich versperrte ihm ein kräftiger Arm vor seiner Brust den Weg.

    »Ich gehe nach unten.«

    Ein kleiner Mann von mindestens hundert Kilo blickte den Schmuggler mit dem Klemmbrett bestimmt an. »Der Junge bleibt mit seinem Vater an Deck«, bestimmte er. Und er schien nicht den Eindruck zu machen, als würde er sich umstimmen lassen. Der Junge an der Reling zögerte einen kurzen Augenblick. Dann nickte er und Aadils Retter stieg die Treppe hinunter.

    »Danke«, sagte Aadil leise, als sich dieser an ihm vorbeidrängte.

    »Sieh zu, dass du deinen Jungen sicher übers Meer bringst«, erwiderte der Dicke nur und verschwand in die Dunkelheit.

    Aadil suchte sich und seiner Tochter einen Platz am Bug des Bootes. Aus irgendeinem Grund wollte er möglichst weit weg von der Schiffsschraube sein. 

    Steinerne Mienen blickten sie stumm an, als sie sich den Weg durch die Menschenmasse bahnten. Vorne angekommen stellte er sich zwischen die dort schon Stehenden. An ein Setzen war nicht zu denken, so dicht waren sie alle aneinander gepresst. Wie Sardinen in der Dose.

    »Siehst du das Meer?« fragte Aadil seine Mayla ruhig. Sie nickte. »Wir sind zum ersten Mal auf einem Boot und werden jetzt dann gleich über den weiten Ozean fahren. Ist das nicht toll?«

    Welcher Vater würde seine Tochter in diesem Augenblick fragen, ob das nicht toll sei? Doch was hätte er sonst sagen sollen? Kein Vater würde sein Kind auf ein solches Schiff setzen. 

    Ausser – das Wasser war sicherer als das Land.

© Samuel Vetsch | 2020