Aadils Blick glitt dem Bootsrand entlang nach unten zum Wasser. Der Rand des Schiffes hielt sich nun nur wenige Zentimeter über der Wasseroberfläche. Aadil realisierte, dass sie chancenlos waren, wenn auch nur der Hauch eines Sturms aufziehen würde.
Dann riss ihn die rufende Stimme des Schleppers aus seinen Gedanken: »Alles herhören!«
Einige hielten sofort inne. Ein paar andere hatten sich mittlerweile aber in leise Gespräche vertieft und den Ruf des Jungen offenbar überhört. Kurzerhand nahm er seine Pistole aus dem Hosenbund und streckte sie in die Höhe. Aadil erkannte sofort was gleich passieren würde. Blitzschnell hielt er seiner Tochter die Ohren zu und wandte sich ab. Denn Blick hinaus aufs Wasser. Dann knallte es. Zuerst ein paar Schreie. Schliesslich war es totenstill.
Der Schleuser hatte die volle Aufmerksamkeit. Er zeigte auf einen anderen jungen Mann, der direkt neben ihm stand. »Das ist Malik Amir. Er wird euer Kapitän sein auf dieser Fahrt. Tut was er sagt oder er wird nicht zögern, euch über Bord zu werfen. Ich wünsche euch eine gute Reise.«
Mit seinen schmalen Armen drückte er das Boot langsam aufs offene Wasser hinaus. Aadil war klar, das Malik Amir kein wirklicher Kapitän war. Er war ein Fliehender, wie sie alle hier. Nur würde ihn die Überfahrt nichts kosten, weil er sich bereit erklärt hatte, diesen Todbringenden Kutter über das Meer nach Europa zu führen.
Mit einem lauten Dröhnen sprang der Motor an. Stickiger Rauch qualmte hervor und wurde vom Wind zu ihnen nach vorne geweht. Mayla erlitt einen Hustenanfall. Aadil hielt ihr ein Stück seines Hemdes vor den Mund, in der Hoffnung, dass es ihr das Atmen ein wenig erleichtern würde.
Langsam kämpfte sich das müde Boot vom Ufer weg in Richtung Meer.
Aadil hatte keine Ahnung, wo er und seine kleine Mayla am Ende an Land gehen würden. Und es war ihm auch egal. Es gab nur eine Sache, für die er in diesem Moment betete:
»Lass uns überhaupt irgendwo an Land gehen.«
© Samuel Vetsch | 2020