Doch auf dem Deck machte sich Unruhe breit. »Was ist los?«, »Warum läuft der Motor nicht mehr?«, »Haben wir kein Licht an Bord?«, »Wir könnten von einem Frachter gerammt werden!« Alle redeten wild durcheinander.
Sie waren mitten im Ozean. Konnten nichts sehen. Und hatten offenbar keinen Sprit mehr.
Aadil bekam es mit der Angst zu tun.
Und es dauerte nicht lange bis diese Angst die Runde machte. Rund um ihn herum begannen die Menschen laut zu beten. Weinen und Wehklagen erfüllte die frische Meeresluft wie ein hilfloser Chor. Einige zückten ihre Smartphones, um mit dem Licht der Bildschirme und der letzten Batterielaufzeit auf sich aufmerksam zu machen. Doch nichts geschah. Ihr Kapitän, Malik, blickte wortlos in die Dunkelheit.
Über eine Stunde lang schaukelten sie vor sich hin. Dann plötzlich; ein Licht in der Ferne. Es kam immer näher und näher. Bis Aadil etwas hören konnte. Das laute Grollen eines Motorbootes kam direkt auf sie zu.
Es dauerte weitere zehn Minuten bis das Boot bei ihnen war. Ein noch älterer Kutter. Deutlich rostiger als der ihre. Und kleiner. Viel kleiner. Eine Handvoll Männer an Bord. Die Passagiere rund um Aadil waren verunsichert. Was passierte hier gerade?
Dann erhob Malik Amir zum ersten Mal seine Stimme: »Hier wird gewechselt! Alle rüber auf das andere Boot!«
Aadil und die anderen waren fassungslos. Was sollte das? Wozu der Wechsel? Sie waren doch schon viel zu viele für dieses Boot. Wie in aller Welt hätten sie alle auf das andere Boot wechseln sollen?
»Auf keinen Fall!« schrie ein älterer Mann aus der Masse. »Wir werden das Boot zum sinken bringen. Nie im Leben werde ich mit meinen Enkeln auf diesen rostigen Kutter steigen.«
Ein anderer schloss sich an und rief: »Das könnt ihr nicht von uns verlangen. Die Kinder sind müde und haben gerade so etwas wie Schlaf gefunden. Und wie der Alte schon sagte, dieses Boot wird uns nicht alle tragen können.«
Mit ihnen erhoben sich nun auch die Stimmen der anderen. »Wir bleiben hier und wollen Sprit für den Motor«, insistierten sie lautstark. Besonders Eltern sorgten sich um ihre Kinder und verweigerten den Wechsel auf das noch viel seeuntauglichere Boot.
»Ihr undankbaren Parasiten!« schrie es plötzlich vom anderen Boot. Aadil konnte nicht ausmachen, wer gerade gesprochen hatte. »Ihr glaubt wohl, ihr seid etwas besseres, was? Wenn ihr unsere Hilfe nicht wollt, dann sollt ihr sie eben nicht bekommen. Malik?!«
Amir Malik sprang vom einen Deck auf das andere. Der Kapitän des anderen Schiffes entfernte sein Boot ein wenig von dem ihren. Dann rief er hämisch: »Wollen wir doch mal sehen, wie ihr ohne Sprit und ohne Kapitän nach Europa kommt.«
Schliesslich hob er seinen Arm. Aadil konnte im Dunkeln nicht erkennen, was er da trug, aber es schien gross und schwer zu sein.
Als würde er nun zur grossen Pointe kommen, säuselte er ein verdutztes »Oh«. Dann fügte er hinzu:
»Und ohne Boot.«
© Samuel Vetsch | 2020