Mayla war mit einem Schlag aufgewacht und weinte laut heraus. An ihren Lippen konnte er erkennen, dass sie laut in den Himmel rief: »Papa! Mama!«
»Ich bin hier mein Schatz«, flüsterte er in ihr Ohr. Er konnte nicht sagen, ob er es überhaupt laut ausgesprochen hatte. Doch vermutlich würde seine Kleine noch weniger hören als er.
Die Menschen sprangen über Bord und versuchten sich verzweifelt vom Schiff zu entfernen und das andere Boot zu erreichen. Doch es war zu weit weg. Die andere Besatzung hatte sich bewusst vom Kutter entfernt, um eine Rettung aussichtslos zu machen.
Aadil blinzelte in die Dunkelheit. Die Männer auf dem anderen Boot schienen zu lachen. Ja. Sie krümmten sich gerade zu davor. Und immer wieder imitierten sie die Hilfesuchenden im Wasser. Wie wild fuchtelten sie mit den Armen umher und ihre Lippen schienen dabei immer wieder ein und dasselbe Wort zu bilden: Hilfe! Hilfe!
Aadil wusste nicht was er tun sollte. Verzweifelt blickte er umher. Noch bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, wurde er zur Seite geschleudert. Das Boot hatte sich mit einem grossen Ruck nach unten gebeugt und begann nun immer schräger zu sinken. Aadil war samt Mayla im Arm ein paar Meter nach unten gerutscht und auf einer festgemachten Kiste aufgeschlagen. Das Boot kippte immer mehr in die Vertikale.
Er blickte über das Deck hinweg zum Heck des Bootes. Ein kleiner Junge schwamm unmittelbar neben dem sinkenden Schiff im Wasser. Er strampelte und strampelte, doch irgendetwas schien ihn zurückzuhalten. Es traf Aadil wie ein Schlag. Schreiend blickte der Kleine zu ihm hoch. Direkt in seine Augen. Dann hörte er auf einmal auf zu schwimmen. Mit einem Ruck trieb das Boot weiter unter die Meeresoberfläche und riss den Jungen nach unten in die Tiefe. Aadil stockte der Atem. Er wusste, dass sie sich soweit wie möglich vom Schiff entfernen mussten, um nicht ebenfalls vom Sog in die Tiefe gerissen zu werden.
Er überlegte keine weitere Sekunde und sprang so weit es nur ging vom Boot weg ins kalte Wasser. Seine kleine Tochter riss er ohne Vorwarnung mit sich. Dann war es still. Die Kälte des nächtlichen Wassers umhüllte sie zur Gänze. Mayla zappelte und Aadil versuchte mit aller Kraft sie an sich zu drücken. Er hatte keinerlei Orientierung mehr. Für einen Augenblick bildete er sich ein, den Sog zu spüren und nach unten gezerrt zu werden. Doch dann realisierte er, dass sie beide nach oben trieben. Mit voller Wucht spuckte er das salzige Wasser aus und füllte seine Lungen mit einem kräftigen Zug kühler Seeluft. Er schaute Mayla an. Sie hustete wie verrückt und weinte noch immer. Aber sie lebte. Das war im Moment das einzige, was zählte.
Um sie herum schwammen andere Passagiere. Und die ersten Leichen. Die wenigsten auf dem Boot hatten je in ihrem Leben gelernt zu schwimmen. Ihre Körper trieben leblos an der Wasseroberfläche.
»Mach die Augen zu, Liebes«, wies er Mayla an und strich ihr mit den Händen über die Augenlider. »Du musst unbedingt die Augen zu lassen, verstanden?«
Wohin? Er musste schnell etwas finden, woran sie sich festhalten konnten. Doch was nur? Noch immer hörte er kaum etwas. Zuerst der gigantische Knall. Dann das Wasser, dass sich mit vollem Druck in seine Gehörgänge gepresst hatte. Alles tat ihm weh. Mit seinem verletzten Bein und der verzerrten Hand fiel es ihm nur noch schwerer sie beide über Wasser zu halten.
Dann sah er ihn.
© Samuel Vetsch | 2020