Ein grosser Schwimmring, wie ihn Kinder im Schwimmbecken benutzten. Darin lag eine junge Frau. Die Arme und Beine kräftelos über den Rand herunterhängend. Mit scheinbar letzter Kraft schwamm er zu ihr hinüber.
»Entschuldigung? Entschuldigung?« Er tastete sich mit aller Vorsicht an den blassen Körper heran. Sie fühlte sich kalt und leblos an. Als ihn eine Welle etwas nach oben hob, konnte er einen kurzen Blick auf ihr Gesicht erhaschen. Ein Schauder lief ihm über den Rücken. Ihre Augen blickten weit geöffnet zum Nachthimmel hinauf. Starr und tot. Ihre Lippen blau vom kalten Wasser. Was auch immer hier geschehen war, sie hatte den rettenden Ring zu spät erreicht.
»Lass die Augen zu, ja?« sagte er zu Mayla. Seine Tochter versuchte so etwas wie ein Nicken. »Ich habe ein kleines Floss für uns beide gefunden. Doch du musst dich kurz hier festhalten. Schaffst du das?«
Vorsichtig führte er ihre kleine Hand an einen der beiden Griffe, die links und rechts auf der oberen Seite des Reifens angebracht waren. Mayla hielt den Griff fest umklammert. So fest es eben ging.
Mit rasendem Puls liess er seine Kleine los. Es fühlte sich an, als würde er sie über einen tiefen Abgrund hängen und einfach darauf hoffen, dass sie nicht losliess. Aber er musste zuerst die Frau aus dem Ring kriegen. Mit aller Kraft zog er an ihrem leblosen Körper. Vergeblich. Dann wagte er aus schierer Verzweiflung heraus einen anderen Versuch. Mit einem kurzen Blick versicherte er sich, dass Mayla sich noch tapfer festhielt. Dann zog er seine Schwimmweste aus und holte tief Luft.
Das kalte Wasser stach ihm wie Nadeln in den Kopf als es ihn vollends umhüllte. Tastend suchte er das Loch in der Mitte des Rings. Bis er sie spüren konnte. Mit aller Energie, die er zusammenbrachte, packte er sie am Rücken und drückte so schnell er konnte nach oben. Zum Glück war die Frau nicht schwer gebaut. Und so spürte er, wie sie langsam über ihm hinweg glitt und er durch das Loch nach oben an die frische Luft brach. Sofort zog er sich nach oben und schaute umher. Erleichtert erblickte er die kleinen Hände. Sie umklammerten immer noch fest den Griff aus blauem Plastik. Er beugte sich über den Rand zur Seite, griff nach seiner Schwimmweste und zog schliesslich sein Mädchen aus dem Wasser auf seinen Schoss.
»Es wird alles gut, Mayla. Es wird alles gut.«
Mayla machte zum ersten Mal wieder die Augen auf und blickte in den klaren Nachthimmel. Sie war völlig verwirrt. Ihre Stimme klang erschöpft: »Wo sind wir, Papa? Was ist passiert?« Sie versuchte sich aufzurichten. Doch Aadil drückte sie zurück an sich. Er wollte ihr den Anblick eines Meeres aus toten Körpern ersparen. Viel zu viel hatte er ihr schon zugemutet.
»Bleib einfach hier bei mir liegen, ja?« bat er seine Liebste und hielt sie so fest es ging in seinem Arm.
Dann blickte er vorsichtig um sich. Um sie herum schwammen überall Leichen und Wrackteile. Stück für Stück wurde alles in verschiedene Richtungen getrieben.
Doch zwischen den leblosen Körpern konnte er auch Silhouetten erkennen, die sich noch immer bewegten. Menschen, die zu den Glücklichen gehörten, die etwas gefunden hatten, an dem sie sich festklammern konnten. Wobei er keine Ahnung hatte, ob es so etwas wie Glück hier draussen überhaupt gab.
Obwohl seine Ohren noch immer alle Geräusche zu verschlucken schienen, glaubte er leise Stimmen zu hören. Stille Gebete; wo vorher laute Schreie gewesen waren.
Für einen Augenblick dachte Aadil Abbas an die Menschen unter Deck. Sie alle hatten nicht die geringste Chance gehabt. Auch nicht der Mann, der an ihrer Stelle in den dunklen Laderaum gestiegen war. Und so tat er es den Überlebenden um sie herum gleich und schickte ein leises Gebet zum Himmel.
Er blickte auf Mayla herab, die zitternd in seinen Armen lag. Ob vor Kälte oder Angst, vermochte er nicht zu erahnen.
»Lass die Augen zu, meine Kleine«, befahl er sanft und strich ihr behutsam über ihren nassen Kopf. Verwirrt von tausend Gedanken suchte er nach den nächsten Worten. Nach einem langen Moment der Stille fragte er sie: »Kannst du dich an unser Zuhause erinnern, Mayla? An unser weisses Haus am Meer?«
Sie nickte.
»Und weisst du noch wie schön es dort ist?«
Verunsichert stöhnte sie ein leises »Mhm.«
Aadil sprach weiter. Eindringlicher als er gewollt hatte. Doch es war das einzige, das ihm in diesem Moment Hoffnung gab: »Dann versprich mir, dass du jetzt an unser Zuhause denkst. Dass du das Meer hörst und den Wind fühlst. Den sternenklaren Himmel siehst. Dort sind wir alle zusammen. Du und Mama und ich. Ja? Versprichst du es mir?«
»Ja, Papa.«
Mayla nickte. Sie schmiegte ihren kleinen kalten Körper noch näher an ihren Papa heran. Aadils Herz stockte. Was er hörte, vermochte er kaum auszuhalten.
Zitternd und erschöpft summte Mayla eine sanfte Melodie in die kalte Nacht hinaus. Wann immer sich nachts ein fieses Monster unter Maylas Bett versteckt hatte, hatte sich ihre Mutter zu ihr gesetzt und mit dieser Melodie alles Böse aus ihrem Zimmer vertrieben.
Und nun lagen sie hier. Die Kleider durchnässt und die Hoffnung so unendlich weit weg. Und Mayla, seine kleine grosse Mayla, vertrieb mit ihrer sanften Stimme alles Böse um sie herum.
Nur wenige Minuten später schlief sie ein. Mit Tränen in den Augen blickte Aadil in die schwarze Nacht hinauf. Um sie herum – nichts als Wasser.
© Samuel Vetsch | 2020