HOFFNUNG

19

    Die ganze Nacht und einen endlosen Tag lang trieben sie im Wasser. Nachts kämpften sie gegen die kalte Bise an. Tagsüber brannte die sengende Hitze auf sie herab.

    Obwohl Mayla immer schwächer geworden war, hatte sie sich vom Schock und den Strapazen etwas erholt. Sie hatte viel geschlafen. Und hin und wieder hatten sie zusammen gesprochen. Gesungen. Und manchmal sogar gelacht. Fast so, als würden sie nur in einem grossen Swimmingpool treiben und die Sonne geniessen.

    Irgendwann hatte Mayla ihm gestanden, dass sie Mr. Jingles verloren hatte. Sie hatte mit aller Kraft versucht ihn festzuhalten. Doch er war plötzlich weg gewesen. Schliesslich hatte sie ihren Papa gebeten, nicht böse zu sein. Weil sie nicht gut genug auf Mr. Jingles aufgepasst hatte. Und dass er ja jetzt in ihrem wunderschönen Zuhause einziehen konnte. Kurz darauf war sie wieder eingeschlafen. Es hatte ihm fast das Herz zerrissen.

    So trieben sie noch eine Nacht. Und einen weiteren Tag. Kein Schiff am Horizont. Keine weissen Streifen am Himmel. Kein Land in Sicht.

    Es war gerade wieder dabei einzudunkeln, als Aadil es von Weitem sah. Er war sich nicht sicher, ob er es richtig erkannte. Doch da schwamm etwas. Ein kleiner roter Koffer trieb nur wenige Meter von ihnen entfernt.

    Immer wieder waren Schiffsteile und Gegenstände der anderen Passagiere an sie heran- und wieder von ihnen weggetrieben. Immer wieder hatte Aadil Ausschau gehalten. Ob nicht irgendetwas dabei war, das ihnen in dieser ausweglosen Situation hätte helfen können.

    Einmal hatte er geglaubt, dass ein Smartphone vor ihnen schwamm. Sein eigenes hatte er verloren, als sich das Boot im Wasser aufgetürmt und sie nach unten geschleudert hatte. Doch beim Näherkommen hatte sich herausgestellt, dass es sich um einen einfachen Geldbeutel handelte. Nichts darin ausser ein Foto. Eine junge Frau, ein ebenso junger Mann und zwei kleine Kinder. Eine glückliche Familie, die nichts in der Welt hätte auseinander bringen können. 

    Nichts. Ausser die Bomben, die immer näher gekommen waren. Ausser die Männer und Kinder, die aus heiterem Himmel mit ihren Maschinengewehren auf die Menschen schossen. Nichts ausser die einzige Hoffnung, die es zu geben schien. Ein Schiff zu besteigen und nicht zu wissen, ob man es jemals wieder lebend verlassen würde. Aadil nahm das Foto an sich und entliess den Geldbeutel zurück ins Meer.

    Er hatte schon vor Stunden die Hoffnung an eine Rettung verloren. Mayla und er hatten Durst und Hunger. Und die Sonne hatte ihre Haut mittlerweile in schmerzendes Rot gefärbt.

    Rot! Der Koffer! Aadil war wie aus einem Traum gerissen.

    Mit verschwommenem Blick suchte er nach dem, was seine Augen Sekunden zuvor erhascht hatten. Da war es. Vorsichtig ruderte er mit seinen Händen in die Richtung des kleinen Köfferchens. Als er angekommen war, hätte er am liebsten laut aufgeschrieen. Dieses Mal vor Freude.

    »Was ist das?« fragte Mayla, die die Aufregung ihres Vaters unmittelbar bemerkte.

    »Das, meine liebe Mayla«, antwortete er mit Freudentränen in den Augen. Er machte eine Pause und atmete tief durch. Dann öffnete er mit zitternden Händen den Deckel. Seine ausgetrocknete Haut schien zu zerreissen, doch seine Mundwinkel wurden bis ins letzte Ecklein hinaufgezogen. Mit bebender Stimme sagte er: »Das … ist ein Feuerwerk!«

    Die kleine Pistole lag unscheinbar im Inneren des Koffers. Zusammen mit drei dicken roten Patronen. Jede ungefähr zehn Zentimeter lang.

    Zum ersten Mal kam Hoffnung in ihm auf.

    »Ein Feuerwerk?! Im Ernst?!« Mayla strahlte über beide Ohren. Aadil lachte laut unter Tränen. Dass er dieses Strahlen noch einmal sehen durfte.

    »Können wir es anzünden?« fragte Mayla aufgeregt.

    »Das hoffe ich, meine Kleine, das hoffe ich«, antwortete er. Dann überlegte er kurz und fügte hinzu: »Aber nicht alleine.«

    »Was meinst du damit?«

    »Findest du denn, es wäre fair, wenn wir die einzigen sind, die dieses Feuerwerk sehen dürfen?« fragte er sie ermahnend. Mayla dachte kurz nach.

    »Aber es ist ja niemand sonst hier«, stellte sie freudig fest. Fast so, als wäre das Grund genug, das Feuerwerk gleich hier und jetzt anzuzünden.

    »Da hast du schon Recht. Aber wer weiss, vielleicht kommt ja noch jemand vorbei.«

    Mayla blickte mit flehendem Blick zu ihm hoch.

    »Lass uns eine Abmachung treffen, ja? Das hier ist ein ganz besonderes Feuerwerk. Und wir beide halten hier so lange durch, bis jemand kommt, mit dem wir es teilen können.«

    »Okay.« Mayla wusste nicht so recht, ob ihr Vater mit »besonders« etwas Gutes oder etwas Schlechtes meinte.

    »Und noch etwas: Du musst mir versprechen, dass du das Feuerwerk anzündest, sobald du jemanden siehst, ja?« 

    Mayla nickte. 

    Aaadil fuhr fort: »Und das auch dann, wenn …«, der Gedanke schnürte ihm die Kehle zu, »wenn du ganz allein bist, okay?«

    »Aber ich bin doch gar nicht allein«, korrigierte sie ihren Vater.

    »Ich weiss, mein Liebes. Ich weiss.« Er atmete tief durch und sagte mit ruhiger Stimme: »Du wirst es verstehen, falls es soweit kommt.«

    Das hoffte er zumindest. Aber noch viel mehr hoffte er, nein, betete er dafür, dass es nicht soweit kommen würde. So hoffnungslos dieser Gedanke ihm auch erscheinen mochte.

    Dann machte er sich daran, seiner kleinen Tochter dieses ganz besondere Feuerwerk zu erklären.

© Samuel Vetsch | 2020