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    Morgen. Eine Woche früher als geplant. Er hatte das Feuerwerk mit ihr ansehen und sie dann auf den Umzug vorbereiten wollen. Dieser Umzug, der kein Umzug war. Es war vielmehr … Wie sollte er ihr das nur in einer einzigen Nacht erklären.
 

    Er war erschöpft. Und müde. Seit Monaten arbeitete er Doppelschichten. Nur selten hatte er seine Tochter gesehen, wenn sie wach gewesen war.

    Mayla verbrachte die meiste Zeit bei Opa Ensar im kleinen Quartierladen unten. Dort half sie beim Einpacken der Tüten oder beim Einräumen der Regale. Opa Ensar war nicht ihr richtiger Opa. Er war vielmehr ihr Grossonkel. Doch das spielte für Mayla keine Rolle. Er war alt, vermutlich sogar steinalt. Vielleicht sogar weit über hundert Jahre, wie sie vermutete. Doch das war ihr ebenso egal. Klar war, dass er alt genug war, um ihr Opa zu sein.

    Und so blieb sie nur allzu oft bis tief in die Nacht hinein beim alten Ensar. Immer wieder versuchte sie sich abends wachzuhalten bis ihr geliebter Papa nach Hause kam. Doch meistens scheiterte sie kläglich und schlief auf Ensars verstaubtem Sofa ein. So tief, dass sie nicht einmal mehr mitbekam, wenn Aadil sie spätnachts von der unteren Wohnung nach oben trug und sie behutsam ins Bett legte.

    Es war kein Leben, wie es sich Aadil für seine Tochter vorgestellt hatte. Es war vielmehr der Versuch seiner Tochter ein kleines bisschen Beständigkeit zu geben. So etwas wie Sicherheit. Doch morgen würde sich all das ändern. Für immer.

    Aadil sah auf seine kleine Tochter hinunter und strich ihr sanft über die dunkelbraunen Haare. Die dicken Wellen verschwanden unter seiner Hand; nur um sich kurz darauf umso mächtiger wieder aufzubauen. Ganz so als wollten sie ihm sagen: »Wir gehen hier nicht weg! Ganz egal was du tust, du wirst uns nicht unterkriegen.«

    »Der Umzug ist erst in einer Woche.«

    Mayla hatte so lange nichts gesagt, dass Aadil beim Klang ihrer Stimme zusammenzuckte.

    »Ich weiss, aber …«

    »Und ich will überhaupt gar nicht umziehen. Mir gefällt es hier!« trotzte Mayla leise. »Ich mag mein Bett und meine Zeichnungen an der Wand. Und ich mag Opa Ensar.«

    Ein weiterer Knall durchdrang die Wohnung. Ganz so, als wollte er Maylas Worte unterstreichen.

    »Ich weiss, mein Liebes« antwortete Aadil so ruhig es ihm möglich war. »Ich mag diese Wohnung auch – und Opa Ensar. Und ich möchte auch nicht wegziehen.«

    »Warum gehen wir dann?«

    Aadil richtete sich gerade auf dem kleinen Sofa auf und mit ihm erhob sich auch Mayla. Die beiden blickten sich direkt in die Augen. Zumindest dorthin, wo sie die Augen des anderen in der Dunkelheit vermuteten. Wieder knallte es.

    »Weil es nicht anders geht.« Er schämte sich für seine Antwort. Doch sie beide wussten, dass er es dabei belassen würde.

    »Kann ich mir das Feuerwerk denn wenigstens vom Fenster aus ansehen?«

    »Das bringt nichts. Es ist zu weit weg«, antwortete Aadil. Obschon er wusste, dass alles ganz anders war.

    »Aber …«

    »Ich habe nein gesagt«, bestimmte Aadil. Lauter als er eigentlich gewollt hatte.

    Wieder knallte es. Aadil zuckte zusammen.

    »Aber ich will jetzt das Feuerwerk sehen!« Mit einem Satz sprang sie auf ihre dünnen Beinchen und rannte zum Fenster. Genau in dem Moment, als ein weiterer Knall ertönte und den Nachthimmel zum Leuchten brachte. Lauter und heller als je zuvor. Aadil sprang auf und zog Mayla mit voller Kraft zurück. Weg vom Fenster.

    »Nicht!« schrie er und Mayla erschrak so sehr, dass sie ein lautes Kreischen von sich gab.

    »Papa!« fauchte sie ihn an.

    »Tu das nie wieder! Verstanden?«

    »Aber warum denn?«

    »Weil …«, Aadil stockte.

    Er versuchte sein rasendes Herz zu beruhigen. Seinen schnellen Atem zu zähmen. Du hättest sterben können, meine kleine Mayla. Verstehst du das denn nicht? Natürlich verstand sie es nicht. Wie hätte sie es auch verstehen sollen.

    »Papa?« Mayla beobachtete den Ausdruck in den Augen ihres Vaters. Er machte ihr Angst. Grosse Angst.

© Samuel Vetsch | 2020