»Papa! Papa!«
Das laute Pfeifen riss ihn aus einem tiefen Traum.
Es war mitten in der Nacht. Die Sterne zeigten sich von ihrer schönsten Seite. Doch er konnte sie nicht genau erkennen. Da war etwas im Weg.
Roter, leuchtender Rauch.
Oh nein!
Er brauchte einen Moment, um richtig zu sich zu kommen. Mayla hatte sich auf seinem Schoss aufgekniet und blickte völlig fasziniert in den Himmel.
»Nein! Mayla, nicht!«
»Was ist denn?« Augenblicklich war die Freude aus ihrem Blick gewichen.
»Ich hatte dir doch ausdrücklich gesagt, dass wir dieses Feuerwerk teilen!«
Er schrie sie an. Sie hatte ihre einzige Chance auf Rettung zerstört. Völlig verwirrt blickte Mayla ihren Vater an. Dann zeigte sie hinaus in die Dunkelheit. »Aber sieh doch nur. Da!«
Aadil kniff die Augen zusammen.
Nichts.
Nichts als Dunkelheit.
»Papa?« fragte sie vorsichtig.
»Da ist nichts, Mayla«, tröstete er sie. Im Versuch, sich seine Enttäuschung nicht allzu sehr anmerken zu lassen.
So war es also. Mayla hatte ihre letzte Hoffnung in den Himmel geschossen. Für immer verpufft in einer Wolke aus rotem Rauch.
Das Licht blitzte in der Dunkelheit auf.
Nur kurz.
Aber doch da.
Aadil richtete sich auf. Er schaute so gut er konnte in die Ferne.
Wieder.
Ein kleines weisses Licht.
Wie ein Scheinwerfer der blinkte.
Nein. Nicht blinkte. Er drehte sich hin und her. Unruhig und etwas ruckartig. Fast so, als schien er etwas zu suchen.
Dann war plötzlich alles klar. Das Licht hatte aufgehört sich zu drehen. Es hatte ganz offensichtlich gefunden, wonach es gesucht hatte.
Und zielte genau in ihre Richtung.
Sofort fing Aadil an wie wild zu winken und zu schreien. Es war, als wäre all die Erschöpfung mit einem Mal verschwunden und alle Kraft für einen letzten Auftrag zurückgekehrt.
Er rief so laut es seine erschöpften Lungen noch zuliessen: »Hallo! Hier sind wir! Hier!« Kurz darauf stimmte auch Mayla in die Rufe mit ein: »Hallo! Hier!«
Es dauerte nur wenige Minuten, bis das Schiff bei ihnen war. Doch für Aadil fühlten sie sich wie Stunden an.
Er konnte es nicht glauben.
Sie waren gerettet.
Nein, seine kleine Mayla hatte sie gerettet. Sie ganz allein. Mit aller Kraft drückte er sie an sich und küsste mit tausend Küssen ihre Stirn ab. »Danke, Mayla! Danke, danke, danke!«
»Aua!« rief sie. Er liess sie los. Vor lauter Aufregung und in der Dunkelheit hatte er total vergessen, wie verbrannt ihr ganzer Kopf war.
Mit Tränen in den Augen strahlte er sie an. »Ich bin so unglaublich stolz auf dich, meine Kleine!«
Aadil konnte nicht beschreiben, was er fühlte, als er das sichere Deck des gigantischen Frachters unter seinen Füssen spürte. Es war, als hätte er einen steinharten Fels betreten, den nichts und niemand zum Sinken bringen konnte.
An Bord wurden Mayla und er fürs Erste notversorgt. Der Kapitän mit dem Namen Evangelos war ein stämmiger Mann in seinen Fünfzigern; mit dichtem schwarzem Haar und ebenso dichtem schwarzen Schnäuzer. Er hatte ihnen erklärt, dass er sie sicher an Land bringen würde. Dort kämen sie zuerst einmal in zwei verschiedene Krankenhäuser.
»Den Jungen bringen wir in eine Kinderklinik«, erklärte er. Aadil hatte nicht die Kraft ihn aufzuklären. Dafür würde es noch genügend Zeit geben. Zeit. Was für ein kraftvolles Wort.
Mit ernster Stimme fragte Evangelos: »Sie haben von den Aufnahmezentren gehört?«
Er sprach das Wort »Aufnahmezentren« in tiefer Sorge aus. Aadil schloss die Augen und nickte. Dann fügte Evangelos hinzu: »Vielleicht sollten Sie den Kleinen bei Gelegenheit darauf vorbereiten, was Sie beide erwartet, sobald Sie aus dem Krankenhaus heraus sind.« Sein Blick auf Mayla gerichtet, die kurz nach der Ankunft auf dem einfachen Bett aus Metall eingeschlafen war. Als wäre es ein Himmelbett in einer Luxussuite.
Aadil wusste, dass sie an ihrer übernächsten Station kein so gemütliches Bett erwarten würde. Er hatte von den Lagern gehört. Und doch: Konnten sie wirklich schlimmer sein, als der Krieg?
Als hätte Evangelos seine Gedanken gelesen, antwortete er: »Es tut mir wirklich leid, mein Freund. Ich habe den Krieg nie erlebt. Doch wenn Sie mich fragen, sind die Lager nur der Schritt von einer Hölle in die nächste. Kein Platz, den man sich für sein Kind wünscht.«
Dann erhob er sich, versuchte ein Lächeln und sagte mit sanfter Stimme: »Aber Sie beide leben. Ich kann mir nicht vorstellen, was Sie da draussen durchgemacht haben. Aber … Sie leben.« Er machte eine kurze Pause und fuhr fort: »Und jetzt schlafen Sie eine Weile. Sie werden es brauchen.«
So taten sie es.
Auch wenn man sie an Land vorerst trennen würde, wusste Aadil, dass alles gut werden würde. Sie waren gerettet. Und seine tapfere Mayla war dafür verantwortlich. Seine Mayla.
Die Zeit im Krankenhaus verging wie im Flug. Aadil erholte sich schneller als gedacht und schon wenige Tage später wurde er entlassen.
»Sie müssen sich noch schonen«, ermahnte ihn der zuständige Arzt. »Aber Sie werden das schon packen. Ich habe mit den Behörden gesprochen. Es wird Sie im Kinderkrankenhaus jemand besuchen und über das weitere Vorgehen aufklären. Sie haben wirklich verdammt viel Glück gehabt. Und jetzt los. Ihre Tochter freut sich bestimmt, Sie wieder in den Arm nehmen zu können.«
Dann drehte er sich um und ging in Richtung Tür. Mitten im Türrahmen blieb er stehen und drehte sich zurück zu Aadil.
»Bitte entschuldigen Sie. Haben Sie noch irgendwelche Fragen?«
Die hatte Aadil tatsächlich. Jedoch nur eine einzige. Er richtete seinen Körper langsam auf. Dann fragte er mit einem Lächeln im Gesicht: »Können Sie mir sagen, wann das nächste Feuerwerk hier stattfindet?«
© Samuel Vetsch | 2020