FEUERWERK

22

    Aadil Abbas blickte in den sternenklaren Abendhimmel.

    Seine Tochter sass neben ihm auf der weiss gestrichenen Steinmauer. Sie hatte einen kleinen türkisfarbenen Hut auf, unter dem sie ihren unförmig geschorenen Kopf vor der kühlen Abendbrise schützen konnte. Noch immer schälte sich ihre Haut an einigen Stellen ab. Starr blickte sie neben ihrem Vater in den Himmel hinauf.

    »Wann geht es los?« fragte sie leise.

    Die Strapazen hatten ihr deutlich stärker zugesetzt als Aadil. Sie brauchte noch immer Kraft, um über längere Zeit zu stehen. Auch hatte sie kaum gesprochen, seit sie auf der Insel angekommen waren.

    Aadil wusste: Sie hatten es geschafft. Sie hatten diesen Albtraum überlebt. Doch er würde noch lange nicht vorbei sein. Seine kleine Tochter würde vielleicht nie mehr die Freude ausstrahlen, die sie noch vor wenigen Wochen überall hin versprüht hatte.

    Jede Nacht wurde sie von schrecklichen Träumen aus dem Schlaf gerissen. Ihr Körper zitterte und bebte. Voll von kaltem Schweiss. Schreiend. Weinend. Würde es je vorübergehen?

    Die Situation im Flüchtlingslager war katastrophal. Kaum sauberes Wasser. Die Toiletten abscheulich. Überall Abfall und Ungeziefer. Und dann das Essen. Wenn man es denn so nennen konnte. Immer wieder dachte Aadil an diesen einen Abend mit Mayla zurück. Den Abend, als der Geruch von wilden Gewürzen, warmem Honig und gedörrten Früchten ihre Wohnung erfüllte. Den Abend vor ihrer Abreise.

    Was Aadil aber am allermeisten belastete, war der Hass. Die Wut, die auch hier, in der neuen erhofften Heimat, allgegenwärtig war.

    Einige der Inselbewohner schürten soviel Hass gegen die Geflohenen, dass sie es sich zur Aufgabe gemacht hatten, sich in regelmässigen Abständen am Rande des Lagers mit Transparenten aufzustellen und sie zu beschimpfen. Teilweise machten sie sich sogar die Mühe, ihre herablassenden Worte in die Muttersprachen der Flüchtlinge zu übersetzen. Damit ihre klaren Ansagen keinen Zweifel offen liessen. Für diejenigen, die gar nicht lesen konnten, sagten ihre Blicke und Gesten mehr als tausend Worte. Spätestens dann, wenn sie mit voller Kraft in die Richtung der Vorübergehenden spuckten.

    »Und eure Frauen lasst ihr Zuhause verrecken«, schrieen sie. Oder: »Aber fürs Smartphone reicht’s, was?« Oder ganz einfach: »Verpisst euch aus unserem Paradies.«

    Wann immer es ihm möglich war, nahm Aadil den längeren Weg vom Strand zur Unterkunft. Dieser führte zwar teilweise durch die Müllgruben. Doch er empfand den Pfad durch den Abfall für Mayla weniger erniedrigend, als die unsäglichen Schimpftiraden.

    Mehr als einmal hatte er sich gefragt, was Gott für einen Plan mit ihnen hatte – und ob es in dieser Welt überhaupt so etwas wie einen Gott gab.

    »Manchmal frage ich mich, ob wir nicht besser gestorben wären.«

    Die Worte hatten ihn wie ein Schlag getroffen. Sie hatte auf ihrer dünnen Matratze gelegen und an die Decke des Zeltes gestarrt.

    »Dann wären wir jetzt bei Mama.«

    Es hatte ihm die Tränen in die Augen getrieben. All die Strapazen. Das ganze Leid. All das. Umsonst? Für welches Leben? Er hatte ihr eine Zukunft geben wollen. Ein Zuhause. Doch war das hier wirklich eine Zukunft?

    Es war noch immer fraglich, ob sie überhaupt hier bleiben durften. Das Asylverfahren konnte noch Wochen dauern, hatte man ihnen gesagt. Aadil wusste von anderen, die bereits seit Monaten hier ausharrten. Und was dann? Was, wenn sie am Schluss wieder zurück geschickt werden würden? Ihre Heimatstadt war mittlerweile vollkommen zerstört. Von Onkel Ensar hatte er nie mehr etwas gehört.

    War das das Leben, dass er sich für seine kleine Mayla gewünscht hatte? Er hatte alles getan, um ihr Leid zu ersparen. Doch hatte er ihr durch seine Entscheidung nicht erst Leid gebracht?

    Seine Yasha hätte auf all das eine Antwort gehabt. Seine Yasha hätte ihn in den Arm genommen und ihm gesagt, dass alles gut werden würde. Dass sie alle eines Tages in ein schönes Haus ziehen würden. Ein weisses Haus am blauen Meer.

    Was war bloss geschehen, dass seine Tochter sich wünschte, sie wäre schon heute an diesem Ort? Zusammen mit ihrer geliebten Mutter.

    Er hatte sich so sehr angestrengt, um ihr das Leben an diesem schrecklichen Platz etwas schöner zu machen. Jeden einzelnen Abend war er mit ihr zum Meer hinuntergegangen und hatte ihr Geschichten erzählt. Geschichten voller Hoffnung und Zuversicht. Er hatte alles getan, um sie zum Lachen zu bringen. Und war vor Freude in die Luft gesprungen, wenn er es denn einmal geschafft hatte.

    Und er hatte ihr immer wieder gesagt, dass es schon bald ein grosses Feuerwerk geben würde. In der Stadt, deren Lichter sie abends vom Strand aus  sehen konnten.

    Nun blickte sie in den Nachthimmel hinauf und wartete gespannt auf den einen Moment.

    Doch das Feuerwerk würde vorübergehen. Und dann? Wie würde sie jemals wieder lernen sich zu freuen, zu hoffen, zu träumen?

    Er beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken. Nicht heute. Heute war ein ganz besonderer Abend. Maylas allererstes richtiges Feuerwerk.

© Samuel Vetsch | 2020