23

    Aadil blickte zu ihr hinunter und sagte: »Nur noch ein wenig Geduld, meine liebe Mayla. Es geht bestimmt gleich los.«

    Im selben Augenblick hörte er es.

    Das schrille Pfeifen von abgefeuerten Raketen.

    Mayla zuckte zusammen. Angst machte sich in ihrem Gesicht breit. Aadil hob sie auf seinen Schoss und sagte: »Keine Angst. Das ist nur das Feuerwerk. Schau!«

    In tausend Farben breiteten sich die grossen Blumen und Palmen vor dem Sternenzelt aus und erhellten den dunklen Nachthimmel. Die Farben spiegelten sich auf Maylas strahlendem Gesicht wider. Im einen Moment leuchtete es grün. Nur um Sekunden später in Töne von Blau und Türkis überzugehen.

    Mayla blickte wie gebannt nach oben. Ohne es wirklich zu bemerken, zuckte sie bei jedem Pfeifen, bei jedem Knall zusammen. Immer stärker klammerte sie sich an ihren Papa. Und doch kam sie aus dem Staunen nicht heraus.

    So sassen sie da. Ganze zwanzig Minuten lang und liessen sich von den schillernden Funken verzaubern. Es fühlte sich nach Frieden an. Vielleicht sogar ein wenig nach Glück. Ein Moment, den Aadil am liebsten für den Rest seines Lebens festgehalten hätte. In einer kleinen Schachtel mit der Aufschrift: Maylas erstes Feuerwerk.

    Als es vorbei war, machten sie sich mit den anderen auf den Weg zurück vom Strand in ihre Unterkunft. Auf der Hälfte des Weges hob er Mayla behutsam hoch und ging weiter.

    »Wie hat es dir gefallen?« fragte er.

    »Es war wunderschön«, erwiderte sie. »Doch es hat mir auch Angst gemacht.«

    »Das ist ganz normal, Mayla. Das ist ganz normal.«

    War es das wirklich? Vielleicht war es normal, dass ein kleines Mädchen Angst vor einem Feuerwerk hatte. Doch bestimmt nicht aus denselben Gründen, wie seine kleine Mayla. Schweigend klammerte sie sich an ihn. Hinter seiner Schulter hörte er, wie sie leise weinte.

    Um rasch in ihr Zelt zu kommen, wählte Aadil den Weg entlang am Rande des Lagers. Er hoffte, dass die Schimpfenden heute daheim geblieben waren. Um ihr Feuerwerk in ihrer Stadt zu bestaunen.

    Eine Sekunde lang glaubte er im Dunkeln ein Flackern zu erkennen. Fast so, als hätte sich auf der anderen Seite des Zauns jemand eine Zigarette angesteckt. Er beschleunigte seinen Schritt ein wenig und vertrieb die beklemmenden Gedanken aus seinem Kopf.

    Sanft drückte er seine Mayla noch ein wenig näher an sich heran und hörte, wie sie einmal mehr dieses eine Lied summte. Das Lied, das alles Böse zu vertreiben vermochte. Wie ein Engel, der nicht verstehen konnte, weshalb er plötzlich in der Hölle gelandet war.

    Wie aus dem Nichts hörte Aadil hinter sich eine laute Stimme rufen. Ungefähr von dort aus, wo er vorher den Funken vermutet hatte.

    »Hier habt ihr euer Feuerwerk, ihr Schweine!«

    Dann ging alles ganz schnell.

    Ein gigantischer Knall dröhnte in den Nachthimmel. Die Druckwelle riss Aadil und Mayla zu Boden. Rund um sie herum brach Panik aus. Menschen kreischten und rannten davon. Aadil legte sich schützend über seine kleine Tochter.

    Aus dem aufgestobenen Sand sah er jemanden auf sie zukommen. Es war Yusuf. Einer der Flüchtlinge aus ihrem Zelt.

    »Was war das?« schrie Aadil.

    »Irgendein Verrückter hat eine Feuerwerksrakete auf den Stromgenerator abgefeuert. Gleich da vorne.«

    Yusuf zeigte in die Richtung, aus der Mayla und er gerade gekommen waren. Der Generator stand in meterhohen Flammen. Aadil stockte der Atem. Nur ein paar Schritte weniger und sie wären direkt daran vorbeigegangen.

    Was sollte das alles bloss? Aadil hatte den Eindruck, als würde dieser Krieg plötzlich überall herrschen. Als wäre es völlig egal, wie oft sie fliehen würden. Er würde sie immer wieder einholen. Und es wäre nur eine Frage der Zeit, bis sie ihm nicht mehr entkommen konnten.

    »Komm, ich helfe euch«, Yusuf streckte Aadil seine Hand entgegen.

    Auf halber Strecke erstarrte er.

    Aadil schaute zu ihm nach oben. Entsetzen spiegelte sich in Yusufs Augen.

    Dann begriff Aadil. Er schaute nicht ihn an.

    Sondern Mayla.

    Das Blut war überall. Es drang aus ihrem kleinen Bauch und floss in alle Richtungen. Ein faustgrosses Metallstück hatte sich mitten durch Maylas Körper gebohrt. Sie atmete schwer. Dann versuchte sie zu husten. Doch sie scheiterte.

    »Mayla!« Aadils Herz blieb stehen. Er beugte sich über sein kleines Mädchen und flehte sie an, die Augen zu öffnen. »Mayla! Wach auf! Bitte!«

    Er drückte sie so fest an seinen Körper wie er nur konnte.

    Plötzlich flüsterte ihre zarte Stimme in sein Ohr: »Papa?«

    Er blickte ihr direkt in ihre schwarzen kugelrunden Augen.

    »Mayla, Liebes. Es wird alles gut.«

    »Papa?« wiederholte sie sich.

    »Ja, mein Schatz?« fragte er. Seine Tränen vermischten sich mit dem Sand in der Luft.

    »Danke.«

    »Wofür denn, Mayla?«

    »Dass du mir das Feuerwerk gezeigt hast. Es war wunderschön.« Ein Lächeln glitt über ihr zartes Gesicht.

    »Wir werden noch tausend andere Feuerwerke zusammen anschauen, Mayla. Hörst du?«

    »Schon okay, Papa«, sie sprach als wollte sie ihn beruhigen.

    »Ich gehe zu Mama.«

    In ihre Stimme schob sich eine freudige Leichtigkeit. »Ich gehe nach Hause, Papa. In das wunderschöne weisse Haus am Meer.«

    Aadil wollte sie anschreien. Er wollte ihr sagen, dass sie nicht nach Hause gehen dürfe. Ihr sagen, dass sie bei ihm bleiben müsse. Doch er konnte es nicht. Er konnte sich nicht so von seiner Kleinen verabschieden.

    Er atmete tief durch.

    Dann sprach er so ruhig er nur konnte: »Ich werde euch immer besuchen kommen, Mayla. Jeden einzelnen Tag, ja? Und ihr beide werdet jeden Morgen beim Frühstück den Blick auf das blaue Wasser geniessen.«

    Er strich ihr sanft über ihren stoppeligen kleinen Kopf.

    »Und irgendwann«, seine Stimme überschlug sich beinahe, »irgendwann werde ich nachkommen, okay? Ich werde zu euch nach Hause kommen. Und dann werden wir zusammen lachen. Und singen. Und tanzen.«

    »Das wäre wunderschön, Papa«, sie konnte kaum noch sprechen.

    Dann schüttelte er ihren schlaffen kleinen Körper. »Mayla? Mayla!«

    Noch einmal öffnete sie ihre dunklen Augen.

    »Ich hab dich unendlich lieb, kleine Mayla. So unendlich lieb, ja?«

    Ein Lächeln stieg in Maylas Gesicht.

    »Ich hab dich auch lieb, Papa.«

    Dann schlief sie ein.

    Für immer.

 

© Samuel Vetsch | 2020