ZUHAUSE

24

    Aadil Abbas’ Hände zitterten, als die junge Frau ihm die Schlüssel in die Hände drückte.

    »Jetzt gehört es Ihnen«, sagte die Dame mit einem sanften Lächeln im Gesicht.

    »Danke«, lächelte er zurück. Er fühlte sich wie ein kleiner Junge, der gleich zum ersten Mal in seinem Leben ein Feuerwerk sehen würde.

    Vorsichtig schob er den Schlüssel in das Schlüsselloch.

    Es bereitete ihm etwas Mühe. Seine Hand hatte sich nie ganz von der Verletzung des schweren Stiefels erholt, die ihm vor Jahren vor dem Betreten jenes unheilvollen Bootes zugefügt wurde. Und auch sonst war er nicht mehr der junge sportliche Mann von damals. Die Jahre hatten ihre Spuren hinterlassen. Durch sein Gesicht zogen sich erste Falten. Seine dunklen Haare wurden mehr und mehr von einem hellen Grau durchstreift.

    Er war hier geblieben. Er hatte seine Frist auf diesem Planeten, auf dieser Insel, verlängert. Hatte eine Arbeit gefunden. Als Gärtner für eine wohlhabende alte Dame, Nerea Petridis.

    Als er ihr nur wenige Tage vor ihrem Tod von seinem weissen Haus am Meer erzählt hatte, war sie in Tränen ausgebrochen und hatte ihn festgehalten, als würde sie ihn für den Rest ihres Lebens nicht mehr loslassen.

    Aadil hatte ihr oft genug gesagt, dass sie für ihn ein Geschenk des Himmels gewesen war. Wie sonst hätte er je aus diesem Albtraum ausbrechen können? Doch an diesem Tag hatte sie erwidert: »Sie haben ja keine Ahnung, Aadil Abbas, wer hier das Geschenk des Himmels ist. Sie, lieber Aadil, hatten zwei davon. Und der Himmel hat Ihnen beide genommen.«

    »Sie verstehen nicht«, hatte Aadil erwidert. »Nichts und niemand wird mir meine liebste Yasha und meine tapfere Mayla jemals nehmen können.«

    Vor etwas mehr als einer Woche war Nerea verstorben. Oft hatte er sie gefragt, was er nur machen würde, wenn sie einmal nicht mehr war. Und immer wieder hatte sie ihm dieselbe Antwort gegeben: »Das lassen Sie meine Sorge sein.«

    Sein Herz war fast stehen geblieben, als kurz nach ihrem Tod ein edler Herr in Anzug und Krawatte vor seiner kleinen 1-Zimmer-Wohnung am Rande der Stadt stand. Wortlos drückte er ihm einen grossen Umschlag in die Hand. Darin ein Zettel auf dem Stand:

    »Lieber Aadil Abbas. Ich fürchte, Sie müssen sich noch etwas gedulden, bis Sie Ihre geliebte Yasha und Ihre kleine Mayla wiedersehen. Ich möchte Ihnen für die Zeit bis dahin ein Geschenk machen. Sie werden es verstehen. Alles Liebe – Nerea Petridis.«

    Der einfache Zettel lag auf zwei dicken Bündeln Papier.

    Das erste davon war für ein Konto. Lautend auf seinen Namen. Mit genug Geld, um Aadil davor zu bewahren noch einmal eine Arbeit suchen zu müssen.

    Das zweite war ein Vertrag. Ein Vertrag für ein Haus.

    Auf der obersten Zeile stand in grosser Schrift: Eigentümer. Aadil Abbas.

    Und nun stand er hier. Vor der blauen Tür eines weissen Häuschens. Rechts neben sich eine Tüte mit den besten Zutaten, die er nur finden konnte. Und links von ihm ein kleiner Labrador; sofern man auf dieser Insel wissen konnte, dass er ein Labrador war. Er war ihm vor ungefähr vier Jahren zugelaufen und seither nicht mehr von seiner Seite gewichen.

    Vorsichtig drehte Aadil den Schlüssel und öffnete die Tür. Sein Blick wanderte geradeaus durch den Flur zum anderen Ende der Wohnung. Ruhigen Schrittes ging er los. Vorbei an der Küche und der schmalen Treppe, die zum Schlafzimmer hinaufführte. Er durchquerte das charmante Wohnzimmer und öffnete eine breite Doppeltür aus Glas.

    Dann trat er auf die kleine Terrasse hinaus.

    Es raubte ihm beinahe den Atem.

    Am unteren Ende der Anhöhe erstreckte sich ein schneeweisser Strand. Sein Blick glitt entlang des Sandes bis in die Ferne. Wie gebannt blickte er auf das strahlend blaue Wasser hinaus.

    Aadil zitterte.

    Eine kleine Träne bahnte sich ihren Weg über seine rechte Wange hinunter.

    Das hätten sie sehen müssen.

    Yasha. Und Mayla.

    Dann schmunzelte er stumm vor sich hin. Wie töricht von ihm. Sie sahen es ja.

    Ein unbeschreibliches Gefühl von endloser Dankbarkeit durchströmte seinen ganzen Körper. Er schaute in den strahlend blauen Himmel und dachte an Yasha. Die unglaubliche Frau, die ihm seine Tochter und noch so viel mehr geschenkt hatte. Und an Mayla. Das heldenhafteste Mädchen, das er je gekannt hatte.

    Dann schickte er ein stummes »Ich liebe euch« zum Himmel, atmete tief ein und blickte auf seinen kleinen Labrador hinunter. Der Vierbeiner blickte zu ihm hoch und Aadil konnte nicht umhin zu glauben, dass er verstand.

    Mit einem Lächeln im Gesicht fragte er: »Was meinst du, Mr. Jingles? Wollen wir uns Frühstück machen?«

    Mr. Jingles sprang mit einem Satz auf und rannte in die Küche.

    Aadil Abbas blieb noch einen Moment lang stehen. Es war unbeschreiblich. Nicht in Worte zu fassen. Er schloss seine müden Augen und atmete noch einmal die frische Meeresluft ein.

    Auch wenn er irgendwie schon immer hier gewesen war. Auch wenn er zu jeder Zeit seines Lebens an diesen Ort hatte reisen können,  fühlte er es in diesem Moment mit jeder Faser seines Körpers.

    Er wusste es.

    Er war angekommen.

    Zuhause.

Ende

© Samuel Vetsch | 2020