YASHA

3

    Wie war es nur soweit gekommen? Das alles war ihm schon längst aus den Fingern geglitten. Wie sollte er es ihr nur erklären? Seiner kleinen Mayla. Je älter sie wurde, desto weniger ergaben seine Antworten auf ihre Fragen einen Sinn.

    Als sie das erste Mal umziehen mussten, war sie gerade einmal ein gutes Jahr alt gewesen. Zu klein, um nachzufragen. Damals hatte es gereicht, ein paar Orte weiter weg zu fahren. Er und seine Frau Yasha hatten fest daran geglaubt, dass sich die aus dem Ruder gelaufenen Demonstrationen bald wieder beruhigen würden. Sie würden ein paar Monate bei einem Freund unterkommen und dann wieder zurück in ihre geliebte Heimatstadt fahren. Doch so war es nicht gekommen.
 

    Nur wenige Monate hatte es gebraucht, um aus den Demonstrationen einen Bürgerkrieg zu entfachen. Und bald schon war es auch in ihrem neuen Zuhause nicht mehr sicher gewesen.

    Im Süden könne man noch sicher leben, hatte sein Onkel Ensar ihm am Telefon gesagt: »Wir wohnen ganz unten und können den blauen Himmel noch geniessen.«

    Also fuhren sie erneut. Als Yasha und Aadil mit ihrer kleinen Mayla nach einer anstrengenden Reise ankamen, fühlten sie sich erleichtert. Im Süden war es tatsächlich noch ruhig. Hier konnte man in lauen Sommernächten noch sicher im Freien sitzen. Den Abendwind geniessen. Und ein neues Zuhause finden.

    Doch das Leben hier war einfach. Die Menschen arm. Und immer wieder mangelte es an Nahrung oder anderen Dingen. Aadil fand keinen Job und hatte Mühe, für seine Familie zu sorgen. Doch seine liebe Yasha machte ihm an keinem Tag einen Vorwurf.

    »Irgendwann werden wir in einem Haus am Meer leben«, sagte Yasha eines Morgens nach dem Aufwachen. Sie lagen beide noch im Bett. Mayla hatte sie ausnahmsweise nicht schon um 5 Uhr in der Früh aus den Laken geholt.

    Yasha blickte ihrem Aadil tief in die Augen und lächelte.

    »Ich habe es im Traum gesehen«, fuhr sie fort. »Ein wunderschönes weisses Haus. Nichts grosses. Aber genug gross für uns drei.«

    Sie küsste Aadil auf die Stirn.

    »Wir werden jeden Morgen beim Frühstück den Blick auf das strahlend blaue Wasser geniessen.«

    »Das klingt wunderschön.«

    Aadil strich ihr eine ihrer kräftigen dunkelbraunen Strähnen aus dem Gesicht.

    »Das ist es auch«, lächelte Yasha. Nicht ohne das Aadil einen Hauch von Wehmut in ihrer Stimme erkennen konnte. Dann sass sie auf und sagte mit gestärkter Stimme: »Aber bis es soweit ist, werde ich uns hier ein schönes Frühstück zubereiten.«

    Sie stieg aus dem Bett, streifte ihren Morgenmantel über und verschwand zur Tür hinaus.

    »Yasha«, rief Aadil ihr nach.

    Wortlos streckte sie den Kopf durch die Tür.

    »Ich liebe dich.«

    Ein verschmitztes Lächeln huschte über ihr Gesicht: »Ich weiss!«

    Am nächsten Tag schenkte Aadil ihr eine Kette. Eine zarte Halskette aus Rosegold, die er Jahre zuvor von seiner Mutter geerbt hatte. Sein Onkel hatte ihm eine kleine weisse Muschel gegeben und ein feines Loch hineingebohrt. Als Anhänger. Für mehr hatte es nicht gereicht.

    »Wofür ist die denn?« fragte Yasha ihn.

    »Sie ist ein Versprechen«, antwortete er. »Ein Versprechen an unser Haus am Meer.«

    Zwei Jahre lebten sie bei Aadils Onkel. Zwei schöne Jahre. Zwei einfache Jahre. Zwei ruhige Jahre. Dann kam dieser strahlende Morgen Mitten im April.

© Samuel Vetsch | 2020