Es traf ihn wie ein Schlag.
Ungefähr dort, wo Yashas Bauch eingeklemmt sein musste, vermischte sich rotes Blut mit dem hellgrauen Sand.
Völlig planlos zog er an einer Platte. Vergeblich. Der monströse Stein bewegte sich noch nicht einmal einen Zentimeter.
»Aadil?« hauchte Yasha unter den Trümmern hervor.
»Schhhhh«, flüsterte er und beugte sich wieder über sie. »Ich bin hier. Ich bin hier.«
Wieder lächelte sie ihn an.
»Bitte geh nicht, Aadil.«
»Ich werde nicht gehen, mein Engel. Hast du verstanden? Ich bleibe bei dir.« Er strich ihr so sanft es ihm möglich war über ihre Wange. Seine Hände zitterten. Dann sagte er: »Ich kann die Steine nicht bewegen, Yasha. Ich werde hier warten bis Hilfe kommt. Und dann werden wir in das Haus am Meer ziehen. Wir werden in das Haus am Meer ziehen.«
»Das werden wir, Aadil«, sagte Yasha leise. »Und ich werde dort auf euch warten.«
»Wovon sprichst du, mein Engel?« Er konnte es nicht ertragen, sie so reden zu hören.
»Weisst du noch, wie wir uns für Mayla ein tolles Zuhause gewünscht haben?« fragte sie.
»Ja.«
»Ich glaube, dass wir dieses Zuhause schon immer hatten. Tief in unserem Herzen. Und wir können es überall hin mitnehmen«, ihre Stimme erstickte.
»Du darfst dich jetzt nicht so anstrengen, Yasha.«
»Versprich mir, dass du das unserer kleinen Mayla erklärst. Dass wir überall Zuhause sein können. Und dass sie mich dort jederzeit besuchen kann, ja? Versprichst du es mir?«
»Ich verspreche es dir, Yasha.«
Sie lächelte ihn an. Dann fragte sie ihn: »Kommst du mich auch besuchen?«
»Ich werde kommen«, er konnte seine Tränen nicht mehr zurückhalten. »Jeden einzelnen Tag.«
»Bitte bleib noch ein wenig hier, Aadil. Ich will nicht alleine sein.«
»Du bist nicht alleine, Yasha. Ich bin hier.«
Yasha schloss ihre Augen. Aadil schrie sie beinahe an: »Yasha! Yasha!«
»Ja?« ihre Stimme war kaum noch zu hören.
»Ich liebe dich.«
Ein letztes Mal machte sich ihr Engelslächeln auf ihrem Gesicht breit. »Ich weiss.«
Dann schloss sie ihre Augen. Ihr Kopf kippte zur Seite. Und es war still.
Aadil schrie in den vernebelten Himmel hinauf. Der Schmerz seiner Lunge vermischte sich mit dem unfassbaren Schmerz in seinem Herzen. Der Krieg hatte sie eingeholt – und seine geliebte Yasha mitgenommen. Zitternd fiel er zu Boden.
Niemand wusste woher die Bombe gekommen war. Niemand hatte etwas gehört oder gesehen. Doch Aadil hatte keine Zeit darüber nachzudenken. Auf einmal herrschte Panik. Die Leute rannten durch die Strassen.
»Sie kommen! Rennt um euer Leben!« schrieen sie laut durcheinander.
Dann hörte er es. Weit in der Ferne. Das Rauschen von lauten Motoren und das Dröhnen von Maschinengewehrschüssen.
Ein letztes Mal drehte er sich zu seiner Yasha um. Mit einem Handgriff riss er an Yashas Halskette und küsste die Liebe seines Lebens ein letztes Mal auf die Stirn.
Dann rannte er so schnell er nur konnte. Weg aus dem Dorf. Die Strasse hinauf. Er packte seine kleine Tochter und fuhr zusammen mit Ensar davon. Ohne Ziel, ohne Plan, ohne Zuhause. Einfach nur weg. Schon wieder.
Mayla schrie auf dem Beifahrersitz. Immer wieder rief sie nach ihrer Mutter.
»Wir haben Mama vergessen! Wir haben Mama vergessen!«
Aadil drückte das Gaspedal durch, den Blick in den Rückspiegel gerichtet. Er musste seine kleine Mayla in Sicherheit bringen. Nach Hause. Wo auch immer das war.
© Samuel Vetsch | 2020