Aadil starrte auf Maylas Hals. Eine kleine weisse Muschel an einer rosegoldenen Kette.
»Papa?« das Schweigen ihres Vaters verunsicherte sie mehr und mehr. »Papa? Wieso darf ich nicht ans Fenster und mir das Feuerwerk ansehen?«
Aadil wusste es. Es war Zeit. Zeit seiner Tochter zu erklären, was er nicht erklären konnte. Er erinnerte sich an Ensars Worte.
»Wie soll ich jemals wissen, wann ich ihr vom Krieg erzählen muss? Wie soll ich je herausfinden, ob sie bereit dafür ist?« hatte er ihn damals gefragt.
Ensar hatte gelächelt und mit sanfter Stimme entgegnet: »Es ist ganz einfach, Aadil. Wenn sie mehr wissen will, ist sie bereit für die Antworten.«
Mayla starrte ihn mit feuchten Augen an. Aadil zog sie zu sich heran. Mit leiser Stimme sagte er: »Weil das kein Feuerwerk ist da draussen. Das Feuerwerk wurde schon vor einer Woche abgesagt.«
»Aber was ist es dann?« fragte sie, als wäre dies nur eine von tausend Fragen, die sich ihr soeben eröffnet hatten.
»Krieg, Mayla. Es ist der Krieg«, antwortete er so ruhig es ging.
»Was ist das? Krieg?« fragte sie. Als könnte etwas unfassbar Schlimmes geschehen, wenn sie das Wort nur aussprach.
»Ich werde es dir erklären«, entgegnete Aadil. »Doch vorher möchte ich dir etwas gestehen. Ich habe nämlich schon einmal ein Versprechen gebrochen. Ein Versprechen, das ich heute einlösen will.«
Mayla blickte ihn fragend an.
»Wo ist dein Zuhause, Mayla?« fragte er.
»Na, hier!« antwortete sie prompt. Fast so, als würde es hier um ein kleines Quiz gehen, bei dem es im besten Falle etwas zu gewinnen gab.
»Bist du dir ganz sicher?«
»Natürlich.«
»Und woher weisst du das?«
»Nun«, sie strengte sich an: »Weil das hier unsere Wohnung ist.«
»Das war aber nicht immer so«, korrigierte Aadil sie.
»Hm, dann weil du in dieser Stadt arbeitest.«
»Habe ich denn immer hier gearbeitet?«
»Nein, aber …«, Mayla wurde klar, dass auch das eine Sackgasse werden würde. Plötzlich hatte sie die Antwort: »Jetzt weiss ich es! Weil du hier bist! Und weil wir zusammen gehören.«
Aadil lachte. Dann hakte er nach: »War ich denn an den anderen Orten nicht?«
»Doch, das schon …«, wieder geriet sie ins Stocken.
»Hör zu, mein Liebes«, sagte Aadil. »Wir Menschen glauben oft, dass unser Zuhause ein bestimmter Ort ist. Oder der Platz neben einem geliebten Menschen. Doch was, wenn unser Zuhause ein Ort ist, den wir zu jeder Zeit und überall besuchen können? Ganz egal wo wir sind oder wer gerade bei uns ist.«
»Was meinst du damit?«
War sie doch noch zu klein, um es zu verstehen?
»Kurz bevor deine Mama gestorben ist, hat sie mich gebeten, es dir zu erklären. Doch du warst noch so klein und wir beide so unglaublich traurig.« Er drückte Mayla fest an sich. Dann fuhr er fort: »Doch ich glaube, dass du nun alt genug bist dafür.«
»Ich bin schon lange alt genug«, entgegnete sie stolz und löste sich selbstsicher aus der Umarmung ihres Vaters.
»Das stimmt, meine Kleine.« Er konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.
»Weisst du, damals konnte ich nicht glauben, dass es je wieder ein Zuhause für mich geben würde. Doch dann habe ich gemerkt, dass ich jetzt ganz alleine für dich verantwortlich bin. Und dass du vielmehr ein Zuhause brauchst als ich. Doch wie konnte ich dir ein Zuhause geben, wenn ich selber keines hatte?«
Aadil atmete einen Moment lang tief durch.
»Aber dann wurde mir klar, dass deine Mama schon ein Zuhause für dich geschaffen hatte. Für uns alle.«
»Was? Und wo ist das?« fragte Mayla. Ihr Blick schweifte umher, als könnte sie etwas übersehen. Aadil nahm Maylas Hand und legte sie behutsam auf sein Herz. »Hier. Zuhause ist überall. Es ist ein Platz in deinem tiefsten Innern, den du immer bei dir trägst. Ganz egal wo du bist und wer dich gerade begleitet.«
»Wohnt Mama auch an diesem Ort?« fragte Mayla schüchtern.
Aadil lächelte. »Aber natürlich. Immerhin hat sie dieses Zuhause für uns geschaffen.«