»Und wie sieht es dort aus?«
»Mach deine Augen zu«, wies Aadil sie an. Sie tat wie befohlen und schloss sofort ihre grossen runden Kulleraugen.
»Was siehst du?«
»Nichts.«
»Was soll das heissen, nichts?« fragte Aadil gespielt entsetzt. »Hörst du denn das Meer nicht?«
»Das Meer?«
»Ja, das Meer! Es rauscht und der Wind weht über das Wasser und streift dein Gesicht. Kannst du das nicht spüren?«
Maylas Fantasie war geweckt.
»Jetzt kann ich es spüren, Papa! Und ich höre das Meer.«
»Wusste ich es doch«, sagte Aadil stolz. »Und siehst du das Haus?«
»Ich bin nicht sicher«, sagte sie vorsichtig.
»Es ist ein kleines weisses Haus. Auf einem Hügel. Direkt über dem Strand. Mit einer kleinen Terrasse. Man kann dort jeden Morgen frühstücken und den Blick aufs blaue Wasser geniessen.«
»Ich sehe es, Papa! Ich sehe es!« rief Mayla freudig.
»Toll!« lobte er sie. »Dieses Haus. Dieses wunderschöne Haus am Meer. Das ist unser Zuhause, Mayla. Und du kannst zu jeder Zeit dorthin. Wann immer du willst. Du brauchst nur deine Augen zu schliessen und dein Herz zu öffnen.«
»Und dort kann ich Mama besuchen?« fragte sie aufgeregt.
»Zu jeder Zeit.«
Sie hatte es verstanden. Ensar hatte Recht gehabt. Seine kleine Mayla war soweit. Ruhig begann er zu sprechen. Er wählte seine Worte mit Bedacht.
»Der Umzug morgen früh; der ist nicht wie bisher. Es ist ein ganz besonderer Umzug. Vielmehr eine Reise.« Er machte eine Pause und schaute Mayla an. Sie folgte ihm aufmerksam. »Und auf dieser Reise können wir nicht viel mitnehmen. Nur das Nötigste. Verstehst du?«
Mayla nickte verunsichert.
»Wahrscheinlich ist es auch eine gefährliche Reise, Mayla. Jetzt ist es daher an dir, mir etwas zu versprechen, ja?«
»Was denn?«
»Du musst mir versprechen, dass du während dieser Reise immer auf mich hörst. Ganz egal, was ich von dir verlange, ja?«
»Ich verspreche es dir«, sagte sie bestimmt, doch auch verängstigt.
»Und du musst mir versprechen, dass du niemals unser Zuhause vergisst. Egal, was uns auf unserer Reise geschieht. Du hast immer diesen Ort. Dieses weisse Haus am Meer. Wo du immer hin kannst, wenn du nur die Augen schliesst. Und wo wir alle drei zusammen sein können. Deine Mama, du und ich. Kannst du mir das Versprechen?«
»Ja, Papa. Ich verspreche es dir.«
»Ich bin so stolz auf dich, mein Liebes.« Er drückte ihr einen Kuss auf ihre kleine Stirn. Sie lächelte. »Und noch etwas …« Er machte eine kleine Pause, um die Wichtigkeit der folgenden drei Worte zu unterstreichen: »Ich liebe dich.«
Mayla lächelte ihn verschmitzt an und antwortete kurz und knapp: »Ich weiss!«
Aadil lächelte zurück. »Also gut. Nun, wo du ein Zuhause hast, das dir niemand auf dieser Welt jemals nehmen kann, will ich versuchen, dir den Krieg zu erklären.«
Er zog Maylas Kopf zurück auf seinen Schoss und dachte darüber nach wo er anfangen sollte. Dann atmete er tief durch. Aadil wusste, dass diese Nacht, eine der längsten seines Lebens werden würde.
© Samuel Vetsch | 2020