ABSCHIED

8

    Der blaue Himmel brachte den Tod.

    Wenn es eines gab, das Aadil mittlerweile wusste, war es das.

    Es hatte lange gedauert, bis sie verstanden hatten, woher die Bombe gekommen war. Doch irgendwann hatte ein junger Mann von unbemannten Flugzeugen erzählt. Sie brachten den Tod. Und sie flogen so hoch, dass man sie nicht sehen konnte. Nicht einmal bei strahlend blauem Himmel.
 
    »Im Gegenteil«, hatte der Junge gesagt. »Sie fliegen nur bei schönem Wetter. Bei Wolken und Nebel können die Kameras nichts sehen.«
 
    So weit war es also gekommen. Die Menschen fürchteten sich vor dem blauen Himmel. Und so hatte Aadil kein gutes Gefühl, als er um sechs Uhr morgens mit Mayla in die klare Morgensonne trat. Angestrengt suchte er den Himmel ab. Auch wenn er wusste, dass es keinen Sinn machte.
 
    »Er sollte gleich kommen«, sagte Ensar. Im Gegensatz zu Aadil blickte er die Strasse hinunter. Nicht weniger angestrengt.
 
    »Wieso kannst du denn nicht mitkommen, Opa Ensar?« fragte Mayla verständnislos.
 
    »Weil ich hier bleiben und mich um den Laden kümmern muss«, antwortete er mit ruhiger Stimme. Er hasste es, sie anzulügen. Die Wahrheit war das Geld. Es hatte schlicht nicht für alle drei gereicht.
   
   Aadil blickte auf Mayla herab. »Es ist Zeit, Opa Ensar Tschüss zu sagen, Liebes. Wir werden jeden Moment abgeholt.« Er schob sein Mädchen mit einem zarten Schubser zu Ensar hinüber.
   
    »Auf Wiedersehen, Opa Ensar. Wir schreiben dir eine Postkarte, sobald wir angekommen sind.«
   
    »Ich werde darauf warten, meine Kleine«, erwiderte Ensar mit einem Lächeln im Gesicht.
 
    Dann kniete er sich zu ihr hinunter und drückte sie, als würde er sie niemals mehr loslassen.
 
    »Ich hab dich lieb, meine kleine Mayla. Und ich werde dich immer lieben.«
 
    »Du kannst ja auch auch in unserem neuen Zuhause einziehen«, schlug Mayla stolz vor. »Es gibt bestimmt ein Zimmer für dich.«
 
    »Bestimmt«, antwortete er leise und lächelte dabei über Maylas Schulter zu Aadil nach oben. Aadil kannte seinen Onkel lange genug, um zu wissen, dass dieses Lächeln nur einen einzigen Zweck hatte. Jede noch so kleine Träne aus seinen Augen zu vertreiben.
 
    In diesem Moment bog der braune Jeep um die Ecke und bahnte sich den Weg die Strasse entlang bis zu Ensars Laden. Die Scheiben waren ringsherum so getönt, dass sich der Innenraum kaum erkennen liess. Mit einem Ruck hielt der mächtige Wagen neben den drei Wartenden an. Der Fahrer liess die Beifahrerscheibe herunter. Er trug eine dunkle Sonnenbrille und ein weites hellbraunes Hemd aus Leinen. Seine kurzen Haare und der Dreitagebart betonten sein kantiges Gesicht. Der Mann war jung, vermutlich keine dreissig.
 
    »Aadil Abbas?« fragte er. Seine Miene blieb unverändert.
 
    »Ja«, antwortete Aadil etwas zögerlich.
 
    »Das Geld.«
 
    Aadil wurde unmissverständlich klar, dass sie keine langen Gespräche führen würden. Er öffnete seinen Rucksack und holte den dicken Umschlag heraus. Der Fahrer streckte die Hand durch das offene Fenster. Aadil hielt inne.
 
    »Zuerst wollen wir einsteigen«, sagte er. Weniger mutig, als er gewollt hatte.
 
    Der Mann im Wagen grinste nur. Aadil verstand, dass nicht er hier die Regeln machen würde. Er reichte den Umschlag in das Innere des Wagens. Wortlos öffnete der Fahrer das Päckchen und zählte ungeniert Aadils gesamtes Vermögen. Alles was er je erspart hatte, befand sich gerade in den Händen eines Wildfremden.

 

© Samuel Vetsch | 2020