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    Der Fahrer hatte fertig gezählt.

    »Steigt ein.«
 
    Seine Stimme klang unverändert. Aadil öffnete die Hintertür des Wagens und hob zuerst seine kleine Tochter auf die Rückbank. Dann reichte er ihr ihren Rucksack nach. Und ihren Kuschelhasen. Mr. Jingles. Ihr ganzes Leben. Zumindest alles davon, was sie auf diese Reise mitnehmen durfte. Schliesslich stieg auch er ein und zog Mayla sogleich dicht an sich heran. Da sassen sie. Auf der Rückbank im Auto eines Mannes, von dem sie nicht das Geringste wussten. Er hätte Aadil im nächsten Moment töten und seine kleine Mayla an irgendeinen Menschenhändlerring verkaufen können.
 
    Das Klopfen von Ensar riss Aadil aus den grauenvollen Gedanken. Rasch kurbelte er das Fenster ein Stück weit hinunter.
 
    »Passt auf euch auf.«
 
    »Das werden wir«, antwortete Aadil knapp. Er wusste nicht, was er noch sagen sollte.
 
    Ensar hatte die Hälfte seines bescheidenen Vermögens dafür hergegeben, dass es überhaupt erst für sie beide gereicht hatte. »Sie hat eine Zukunft verdient. Eine echte Zukunft«, hatte er gesagt.
 
    Aadil wusste nicht, wie er seinem Onkel jemals dafür danken konnte. Doch in diesem Moment musste ein einfaches Wort ausreichen. Er drückte seinen Kopf durch das offene Fenster. »Danke.«
 
    Ensar winkte ab. Dann richtete er seinen Kopf hoch, als wäre ihm soeben eine unglaublich wichtige Sache eingefallen. Er beugte sich vor. Als wollte er versuchen seinen grossen Kopf durch das nur leicht geöffnete Fenster hindurch zu pressen. Aadil rückte an ihn heran.

 

    »Wenn ihr auf das Boot kommt«, begann Ensar mit ernster Stimme, »sorg dafür, dass ihr einen Platz an Deck bekommt.«

    »Die Fenster bleiben oben.«

    Die Stimme des Mannes war alles andere als freundlich. Aadil drehte das Fenster wieder hoch. Ohne Vorwarnung setzte sich der Jeep in Bewegung. Die Strasse hinunter. Immer weiter weg. Bis Onkel Ensar nur noch ein kleiner Punkt im Rückspiegel war und schliesslich völlig verschwand. Ob sie sich jemals wiedersehen würden?

    Acht Stunden sassen sie auf der ungemütlichen Rückbank des Geländewagens. Über rüttelnde Schotterwege, und teilweise gänzlich ab von irgendwelchen Strassen, führte sie das Gefährt in eine ungewisse Zukunft.

    Aadil hatte während der ersten drei Stunden noch ungefähr gewusst, wo sie entlang fuhren. Seither hatte er keine Ahnung mehr. Sie waren dem jungen Fahrer, der seit ihrer Abfahrt kein Wort mehr gesprochen hatte, hilflos ausgeliefert. Aadil kannte noch nicht einmal seinen Namen. Mayla hatte schon früh mit der sengenden Hitze gekämpft. Doch Aadils Bitte, die Fenster wenigstens ein bisschen herunterlassen zu dürfen, blieb unbeantwortet. Wobei keine Antwort in diesem Falle nein bedeutete.

    Einmal hatten sie an einer Tankstelle angehalten. Sie konnten die Toilette benutzen und sich frisches Wasser kaufen. Mit dem letzten Geld, dass sie überhaupt noch hatten. Alles andere befand sich im Handschuhfach nur wenige Meter von ihnen entfernt. Und doch unerreichbar.

    Ohne Vorwarnung blieb der Wagen plötzlich mitten auf einem unbefahrenen Feldweg stehen.

    »Wir warten hier«, sagte der Fahrer. Und beliess es dabei.

    Die Sonne brannte gnadenlos auf das Dach. In der brütenden Hitze harrten sie weitere zwei Stunden aus. Bis aus weiter Ferne ein Fahrzeug anzukommen schien.

© Samuel Vetsch | 2020